Neues Nato-Horrorszenario
Wie realistisch ist der chinesisch-russische Albtraum?

Nato-Chef Mark Rutte warnt eindringlich vor einem Zweifrontenkrieg gegen Peking und Moskau. Für Europa hätte er verheerende Folgen. Zwei Experten ordnen ein – und geben nur teilweise Entwarnung.
Publiziert: 08.07.2025 um 18:24 Uhr
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Aktualisiert: 08.07.2025 um 18:35 Uhr
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Nato-Chef Mark Rutte zeichnet ein düsteres Szenario mit Blick auf die russisch-chinesischen Pläne.
Foto: IMAGO/NurPhoto

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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Horrorszenarien sind in diesen Zeiten alles andere als rar. Nicht alle muss man ernst nehmen. Wenn die apokalyptischen Töne aber aus dem Mund des Nato-Chefs Mark Rutte (58) persönlich kommen, dann lohnt es sich, hinzuhören.

Rutte hat der «New York Times» am Wochenende erzählt, mit welchem Albtraum er «aller Voraussicht nach» rechnet: «Wenn Xi Jinping Taiwan angreifen würde, würde er zuallererst seinen Junior-Partner Wladimir Wladimirovitsch Putin anrufen und ihm sagen: ‹Hey, ich werde das tun, und du musst mir helfen, indem du Europa mit einem Angriff auf die Nato ablenkst›.» Das Resultat: ein veritabler Weltkrieg unter Atommächten. Blick hat bei Experten nachgefragt, was sie von Ruttes Schwarzmalerei halten. Wirklich beruhigend sind die Antworten nicht.

Klemens Fischer (61), Professor für Internationale Beziehungen und Geopolitik an der Universität in Köln, sagt, man dürfe derzeit kein Szenario ausschliessen. China unter Präsident Xi Jinping (72) werde die Russen unter Präsident Putin (72) zwar kaum zu einem direkten Angriff auf die Nato drängen, sicher aber dazu, die militärische Drohkulisse an den europäischen Grenzen zu erhöhen.

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Nato-Chef Mark Rutte zeichnet ein düsteres Szenario mit Blick auf die russisch-chinesischen Pläne.
Foto: Getty Images

«Ob an der finnischen Grenze, der baltischen Grenze oder im Schwarzen Meer: Russland wird bis knapp vor den Angriff gehen und die Nato dadurch zu konstanter Aufrüstung zwingen. Die stetigen Truppenverlegungen kosten das Bündnis jetzt schon sehr viel Geld», sagt Fischer. «Baut Russland seine Provokationen aus, dürften die Kosten für die Nato durch die Decke schiessen.»

Nato bereitet sich seit Jahren auf Horrorszenario vor

Dass China Russland beim Aufbau ebendieser Drohkulisse aktiv unterstützt, ist ein offenes Geheimnis. Pekings Aussenminister Wang Yi (71) gab jüngst zu Protokoll, China könne sich eine russische Niederlage in der Ukraine nicht leisten, weil das den Amerikanern die Möglichkeit gäbe, sich voll und ganz auf China und seine Taiwan-Ambitionen zu fokussieren. 

Dass Peking Moskau aber zu einem direkten Angriff auf die Nato drängt, glaubt auch Marcel Berni (37) nicht. Der Sicherheitsexperte an der Militärakademie an der ETH Zürich hält das von Rutte gezeichnete Szenario für den absoluten Worst-Case-Fall. «Dabei gäbe es für alle Beteiligten – also Nato, Russland und China – in puncto Koordination, Überraschungseffekt und gegnerische Reaktion viele Unbekannte. Zudem bereitet sich die Nato seit Jahren auf dieses Szenario vor.»

Die Beziehung zwischen Putin und Xi sei von starkem Misstrauen geprägt, sagt Berni. Peking unterstütze die Russen im Ukraine-Krieg aus pragmatischen Gründen, weil der Krieg den Westen ablenkt und materiell bindet.

Die Mittel, die Europa und Amerika seit Putins Angriff auf die Ukraine zusätzlich in die Verteidigung investieren, sind gewaltig: 150 Milliarden Euro stellt die EU ihren Mitgliedsstaaten für Waffenkäufe zur Verfügung. Denselben Dollar-Betrag investiert Donald Trump (79) in die Modernisierung der US-Streitkräfte. Deutschland hat die Finanzschleusen für Verteidigungsausgaben komplett geöffnet. Und die Nato-Länder (ausser Spanien) haben sich eben darauf geeinigt, bis 2035 die Verteidigungsbudgets auf fünf Prozent des Bruttosozialprodukts zu erhöhen (zum Vergleich: Die Schweiz gibt 0,7 Prozent des BIP für die Verteidigung aus).

«Geld alleine löst die europäische Verletzlichkeit nicht»

«Die Europäer haben begriffen, dass die Amerikaner ihnen nicht zu Hilfe eilen werden, wenn sie nicht selber massiv in ihre Verteidigung investieren», sagt Klemens Fischer zum Fünf-Prozent-Beschluss der Nato. «Wir haben uns 20 Jahre lang ausgeruht und uns in falscher Sicherheit gewähnt. Jetzt wirds halt umso teurer.» Auch wenn es Jahre dauern könne, bis die Investitionen auf dem Schlachtfeld spürbar würden, sende die Nato heute schon eine unmissverständliche Botschaft an Moskau: «Schau her, wir rüsten auf, wir sind bereit. Ein Angriff auf uns bringt nichts!»

Fischer warnt allerdings vor zu viel Zuversicht: «All die Waffen und die Munition bringen uns nichts, wenn uns das Personal fehlt.» Deutschland etwa bräuchte jährlich rund 20'000 Soldaten mehr, als es effektiv hat. «Im Notfall müssen auch Länder wie Deutschland wieder über die Wehrpflicht nach Schweizer Vorbild nachdenken.»

Auch Marcel Berni betont, mit der Fünf-Prozent-Hürde alleine sei noch kein Krieg gewonnen. Damit die Nato ihre Abschreckungswirkung ausbauen könne, brauche es zusätzlich zu mehr Geld vor allem auch neue Infrastruktur und mehr Personal. «Geld allein löst die europäische Verletzlichkeit nicht.»

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