Darum gehts
Die Mullahs haben Sitzleder, das muss man ihnen lassen. Trotz der amerikanisch-israelischen Angriffe im Juni, die weite Teile ihrer Atomanlagen zerstörten, und trotz der neuen Sanktionen gegen das Regime, die die Uno im September wegen des wiederaufgenommenen Atomprogramms erlassen hat: Der geistliche Führer Ayatollah Ali Chamenei (86) hält sich mit seinen Mannen an der Spitze des 92-Millionen-Landes.
Doch dieser Winter könnte im schiitischen Gottesstaat ein richtig heisser werden. Seit Sonntag ergreifen neue Proteste das riesige Land (rund 40 Mal so gross wie die Schweiz). Ein virales Video mobilisiert die Massen. Und: Den Demonstranten winkt Hilfe aus einer überraschenden Ecke.
Ausgelöst haben die Proteste die katastrophalen wirtschaftlichen Zustände am Ende des Jahres. Der iranische Rial hat 2025 fast die Hälfte seines Wertes verloren. Für einen Dollar bezahlen Iraner 1,42 Millionen Rial! Produkte aus dem Ausland sind für die allermeisten inzwischen unerschwinglich.
Die Lebensmittelpreise sind dieses Jahr um mehr als 70 Prozent gestiegen. Vielerorts werden das Wasser und die Elektrizität knapp. Grund genug für viele Ladenbesitzer in Teheran, ihre Tore zu schliessen und auf die Strasse zu gehen. Das Regime seinerseits behauptet, man habe die Läden schliessen lassen wegen der Kälte. Zwei Grad (das Silvesterwetter in Irans Hauptstadt) sind für iranische Verhältnisse zwar tatsächlich kalt, aber noch lange kein Grund für einen Laden-Lockdown.
Von Tiananmen bis Teheran
Seit Dienstag protestieren nicht nur die Ladenbesitzer, sondern in vielen Städten auch Studierende, die mit ihren «Tod den Diktatoren»-Rufen mutig durch die Strassen ziehen. Auffällig: Anders als bei früheren Protesten sieht man auf den verifizierten Videos keine Anti-USA-Propaganda.
Richtig Öl ins Protestfeuer giesst ein Handy-Video, das einen Mann in schwarzer Jacke zeigt, der sich vor rund 20 uniformierten Polizisten auf Motorrädern auf die Strasse setzt und einfach sitzenbleibt. Vergleiche zum berühmten Bild des chinesischen Mannes, der sich bei den Tiananmen-Protesten in Peking im Juni 1989 den anrollenden Panzern in den Weg stellte, kommen auf. Den Iranern bleibt zu wünschen, dass ihr Aufstand anders ausgeht als jener in Tiananmen, den das chinesische Regime niederschlug und bis heute totschweigt.
Die grosse Frage bleibt: Führen Irans neue Massenproteste anders als vergangene Protestwellen tatsächlich zu Veränderungen oder gar zum Sturz der Mullahs?
Die Geschichte zeigt: Damit nationale Aufstände Erfolg haben, braucht es nicht nur die mobilisierten Massen, sondern auch gespaltene Eliten und zu den Aufständischen überlaufende Sicherheitskräfte. Die letzten beiden Elemente sind im Iran derzeit noch nicht sichtbar. Im Gegenteil: Präsident Massud Peseschkian (71) gibt sich geläutert und verspricht Verbesserungen für die Notleidenden. Vom angeblich schwer kranken geistlichen Führer Ayatollah Ali Chamenei hört man, wie üblich – nichts.
Gemeldet hat sich dafür Reza Pahlavi (65), Sohn des iranischen Schahs, den die Mullahs 1979 gestürzt hatten. Er ruft seinen Landsleuten aus dem amerikanischen Exil auf X Mut zu und schreibt: «Der Iran und seine Strassen gehören den Iranern. Wir werden siegen, weil wir vereint sind – und weil wir viele sind.»
Eilen die Feinde zu Hilfe?
Paradoxerweise sind es genau die vermeintlichen Feinde des Iran – Israel und die USA –, die den Winterprotesten zum Durchbruch verhelfen könnten. Bei einem gemeinsamen Auftritt mit Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu (76) in Florida sagte Donald Trump (79) Anfang Woche, er hätte keine andere Wahl, als das Regime erneut anzugreifen, wenn es seine Aufrüstung mit ballistischen Raketen und dem Atomprogramm nicht stoppe. «Wir werden ihnen die Hölle heissmachen», wetterte Trump wörtlich.
Sein Aussendepartement übersetzte das in diplomatische Floskeln und liess am Dienstag verlauten, man stehe «an der Seite derer, die eine bessere Zukunft wollten». Ob das durch den 12-Tage-Krieg im Sommer und die neuen Sanktionen geschwächte Regime einem erneuten Angriff standhalten könnte, ist fraglich.
Behnam Ben Taleblu, Iran-Spezialist und Gastautor in Trumps Lieblingszeitung «New York Post», fordert den US-Präsidenten direkt zum Handeln auf. Ob mit Cyberangriffen oder neuen Sanktionen gegen die Mullahs: «Wir müssen den Iranern helfen. Die Revolution braucht strategische amerikanische Unterstützung, dass sie gelingen kann.»
Ein Grossteil der 92 Millionen Iraner hätte bei einem erfolgreichen Aufstand Grund zu feiern. Ein Ende des Mullah-Regimes – so kompliziert die Nachfolgeregelung auch sein würde –, wäre nach dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien (Dezember 2024) und dem vorläufigen Waffenstillstand in Gaza ein weiterer Hoffnungsschimmer im Pulverfass des Nahen Ostens.