Darum gehts
- Amoklauf an Grazer Schule: Zehn Menschen getötet, Täter richtete sich selber
- Trauernde Schüler und Angehörige versammeln sich vor der Schule
- 21-jähriger Täter lebte fünf Jahre in einem ruhigen Vorort von Graz
Ein Mädchen, um die 15 Jahre alt, bahnt sich ihren Weg durch die Journalisten und Kamerafrauen: Die Schülerin geht neben einer Kollegin, diese hält sie am Arm. Sie presst die Lippen fest aufeinander und schaut starr geradeaus, während die beiden schnellen Schrittes die Gasse verlassen. Erst als sie die letzten Kameras passiert haben, entfährt ihr ein lauter Seufzer, die Tränen kommen. Sie war hier, in der Dreierschützengasse in Graz, um Abschied zu nehmen.
Am Dienstagmorgen schiesst der 21-jährige Artur A.* hier am Oberstufenrealgymnasium um sich. Er tötet nach aktuellem Stand zehn Menschen, Mädchen und Buben zwischen 15 und 17 Jahren und eine Lehrerin. Nach der Tat richtet er sich selbst. Es ist der schlimmste Amoklauf in der Geschichte der Bundesrepublik Österreich. 17 Minuten dauerte er.
Heftige Szenen am Ort der Trauer
Am Mittwoch nehmen Mitschüler, Verwandte und Bekannte Abschied. Die Mädchen weinen, die Mienen der Buben sind versteinert. Manche sind pechschwarz gekleidet. Ein Schülersprecher wendet sich zitternd an die versammelte Weltpresse. «Es wird irgendwann ein Statement geben. Aber jetzt bitte ich euch, uns in Ruhe zu lassen», sagt er.
Der Eingangsbereich der Schule ist mittlerweile durch einen Sichtschutz der Feuerwehr gegen neugierige Blicke abgeschirmt. Dahinter sind laute Schluchzer und Klagelaute zu hören. Einzelne Kameraleute lassen sich dadurch aber nicht beirren und filmen nonchalant über die Wand. Sie werden von der Polizei ermahnt.
Plötzlich schlägt die Stimmung um: Ein Schüler stellt einen dieser Kameraleute zur Rede, ein aufgebrachter Grazer beginnt, die Journalisten zu filmen, und gerät dabei ebenfalls ins Visier der Polizei. «Noch ein Wort und ich bekomm einen Ausweis von Ihnen!» herrscht ihn ein ebenso aufgebrachter Polizist an. Trauer, Unverständnis, Ratlosigkeit – und jetzt auch Wut.
«Das Unfassbare ist möglich geworden»
«Ich bete für die Kinder, für die Eltern, für alle, die unter dieser Tat leiden», sagt Judith Wegenig (39). Sie wohnt in der Nähe und erlebte die Tat, den Einsatz der Cobra-Spezialeinheit und auch der Helikopter. «Ich sah, wie erst die Krankenwagen kamen und dann leider auch die Leichenwagen», sagt sie niedergeschlagen. Sie macht den Hinterbliebenen der Verstorbenen Mut: «Diese Menschen haben nicht umsonst gelebt, sie hatten ein wunderschönes Leben.»
Vor der Schule huscht ein Mann in neongelber Einsatzkleidung umher. Er koordiniert, spricht mit Angehörigen, mit Medienvertretern, mit Schaulustigen. Stefan Loseries, Sprecher des Österreichischen Roten Kreuzes Steiermark, hat für alle ein offenes Ohr. Zu Blick sagt er: «Ich bin seit über 24 Stunden im Einsatz.» Der 30-Jährige ist seit Beginn des Einsatzes hier und hat keinen einfachen Job. «Uns ist wichtig, dass wir da sind», sagt er. Mit Nachdruck fügt er an: «Für alle». Seine Zusammenfassung der Geschehnisse: «Uns fehlen die passenden Worte, denn es gibt die passenden Worte nicht. Das Unfassbare ist möglich geworden in Graz.»
Täter wohnte in ruhigem Grazer Vorort
Szenenwechsel. Auch auf der Autobahn in Richtung Süden ist die scheussliche Tat in Graz spürbar – und sichtbar. «Graz, wir stehen mit euch» steht auf Anzeigetafeln oberhalb der Fahrbahn. Dort, wo sonst steht: «Anhalten zum Handyschauen».
Blick besucht Kalsdorf bei Graz, einen Vorort der steirischen Hauptstadt. Hier hat Täter Artur A. (†21) fünf Jahre lang – und bis zu seinem selber herbeigeführten Tod – gelebt. Früher ging er ebenfalls an das Oberstufenrealgymnasium. Ob es für seine Tat eine Erklärung gibt, ist noch nicht bekannt.
In der unscheinbaren Wohnsiedlung am Rande eines Industriegebietes riecht es nach Flieder, es herrscht Ruhe. Auch hier schwirren Reporter umher, die Nachbarn schauen argwöhnisch von ihren Balkonen hinunter. Und dennoch haben nicht alle mitbekommen, dass der Mann, der zehn junge Leben auf dem Gewissen hat, hier gewohnt hat. Eine junge Frau weitet die Augen vor Schreck, als Blick sie darüber informiert.
Nachbar über Täter: «Er war in seiner eigenen Welt»
Andere hingegen sind darüber nicht sonderlich überrascht. «Ich habe ihn ein paar Mal gesehen», erzählt Nachbar Edi (50). Auf dem Trottoir habe der junge Mann, der später zum Killer werden sollte, den Blick meist gesenkt gehalten und nicht gegrüsst. «Er war in seiner eigenen Welt», bilanziert Edi und verwirft ratlos die Hände. Viele junge Männer in diesem Alter seien so.
Vor der Siedlung, in der Artur A. mit seiner Mutter gelebt hatte, trifft Blick Ruzica (27). Sie habe eine dunkle Vorahnung gehabt, als es in den Medien hiess, dass der Täter in einer «Familiensiedlung» gewohnt hatte. «Als ich vom Amoklauf gehört habe, habe ich Angst bekommen, wirklich», sagt sie. «Ich traue mich schon fast nicht mehr, mein Kind in den Kindergarten zu geben.» Die Tat von Graz müsse strengere Sicherheitsvorschriften und Vorkehrungen nach sich ziehen.
So wie Ruzica geht es aktuell vielen Eltern in Graz und Umgebung. Ein Vater, dessen Töchter dieselbe Schule besuchten, möchte sein Gesicht lieber nicht in der Zeitung sehen. Er sagt vor dem Wohnhaus des Täters: «Gerichtsverhandlungen sind immer polizeilich geschützt. Schulen sollten das auch sein!» Ihm ist es wichtig, dass die Medien «Druck aufbauen» auf die Politik, damit diese die Schulen sicherer macht. Düster fügt er zum Schluss an: «Der nächste Depperte bringt noch mehr Leute um.»