Mit Korruptionsgesetz – Zickzack-Selenski macht grössten Fehler seit Kriegsbeginn
War es das für den EU-Beitritt der Ukraine?

Am Donnerstagabend hat Selenski sein umstrittenes Korruptionsgesetz zwar zu korrigieren versucht. Doch der Schaden für die Ukraine ist angerichtet, sagen Experten zu Blick. Dem Land droht eine neue, für einmal nicht von Putin verursachte, Gefahr.
Publiziert: 24.07.2025 um 19:25 Uhr
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Aktualisiert: 08:48 Uhr
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«Scheisse» finden die Protestierenden in der ukrainischen Hauptstadt Kiew Selenskis neuen Gesetzentwurf – offensichtlich.
Foto: IMAGO/NurPhoto

Darum gehts

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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Zwei Dinge braucht Wolodimir Selenski (47) dringend, um den Krieg gegen die russischen Angreifer nicht zu verlieren: Waffen und Vertrauen. Waffen sind schwierig zu kriegen. Das zeigt das Drama um die Patriot-Luftabwehrsysteme, mit denen sich die Ukraine vor dem russischen Raketenterror schützen will. Die Patriots kommen nicht wie gehofft in den kommenden Wochen in die Ukraine, sondern erst im Frühling 2026, wie «Der Spiegel» berichtet.

Und Vertrauen ist in jedem Krieg ein flüchtiges Gut. Bis anhin ist es dem begnadeten Redner Selenski gelungen, sein Volk und die wichtigsten Verbündeten bei Laune zu halten. Diese Woche aber machte er einen kapitalen Fehler, der der Ukraine – trotz Selenskis Rückzieher am Donnerstag – massiv schadet und sie im dümmsten Fall den erhofften Sieg gegen Wladimir Putins (72) Truppen kostet.

Am Dienstag drückte Selenski das «Gesetz 12414» durchs Parlament, das zwei bis dahin unabhängige Antikorruptionsbehörden unter seine Kontrolle brachte: Die Nabu untersuchte Korruptionsvorwürfe gegen Politiker und Beamte, die SAP brachte sie vor Gericht. Beide Behörden wurden nach den «Maidan»-Massenprotesten gegen den korrupten Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch (75) 2015 ins Leben gerufen.

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«Scheisse» finden die Protestierenden in der ukrainischen Hauptstadt Kiew Selenskis neuen Gesetzentwurf – offensichtlich.
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Wollte Selenski verdächtigte Kollegen schützen?

Dass ihre unabhängigen Korruptionsjäger plötzlich nach der Pfeife des Präsidenten tanzen sollten, passte den Ukrainern gar nicht. Bei den ersten Massenprotesten gegen die eigene Regierung seit Kriegsausbruch vor bald dreieinhalb Jahren forderten Zehntausende Menschen eine sofortige Rücknahme des Gesetzes.

«Selenski macht sich grad selbst zum Janukowitsch», sagte ein Demonstrant aus Kiew gegenüber Blick. Das Unverständnis für Selenskis Entscheid sei riesig. Irgendjemand in seinem Team müsse Dreck am Stecken und um seine Karriere gefürchtet haben. Anders sei das Gesetz nicht zu erklären.

Tatsächlich hatte die Nabu jüngst eine Untersuchung gegen den Selenski-Vertrauten und Ex-Minister Oleksy Tschernyschow (47) eröffnet – wegen mutmasslicher Bestechlichkeit. Zudem hatte die Nabu laufende Verfahren gegen insgesamt 31 aktive ukrainische Parlamentarier am Laufen.

Riskierte Selenski wegen dieses mutmasslich korrupten Kollegen tatsächlich seinen Ruf – und vielleicht sogar die Zukunft seines Landes? Die EU, die Kiew ein paar strenge Hausaufgaben auferlegt hat, bevor man das Land in den erlauchten Kreis aufnehmen will, reagierte jedenfalls ganz und gar nicht freudig auf das neue Gesetz, mit dem Selenski sich und seinem Führungsstab die Macht gab, Korruptionsverfahren jederzeit ohne Grund einzustellen.

Auch aus Amerika hagelte es Kritik. Senator Lindsey Graham (70), einer der mächtigsten Ukraine-Unterstützer in Washington, sprach von einer «Unterwanderung» der Anti-Korruptionsbemühungen im laut der Nichtregierungsorganisation Transparency International noch immer fünftkorruptesten Land Europas (vor der Türkei, Belarus, Bosnien und Russland).

Selenski hingegen begründete seinen Entscheid damit, dass russische Agenten die Behörden unterwandert und dass die Behörden zu wenig geliefert hätten. Im zweiten Punkt gibt ihm Transparency International recht. Die Nabu sei «mässig effizient», hielt die Organisation jüngst in einem Bericht fest.

EU-Beitritt laut Experte gefährdet

Die Massenproteste in mehreren ukrainischen Grossstädten und die Anrufe mehrerer europäischer Regierungschefs haben Selenski am Donnerstag offenbar zum Umdenken gebracht. Der ukrainische Präsident hat zusammen mit den Chefs der Nabu- und SAP-Behörden einen neuen Gesetzesvorschlag erarbeitet, der den beiden Antikorruptionsorganen wieder Unabhängigkeit garantiert. Also alles wieder in Butter?

Ganz und gar nicht, sagt Klemens Fischer (61), Professor für internationale Beziehungen und Geopolitik an der Uni Köln. «Die Ukraine und Selenski selbst sind dauerhaft geschädigt. Die Frage, warum er die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörde überhaupt je aufgehoben hat, stellt sich immer noch – auch wenn er sie mit dem neuen Gesetz wieder herstellt.» Für die Behauptung, die Behörde sei russisch unterwandert gewesen, habe er keine Beweise vorgelegt.

Selenskis Schlitterkurs sei ein harter Schlag für die Bemühungen der Ukraine, bald ein EU-Land zu werden, sagt Fischer: «Die EU muss sich ernsthaft fragen, ob ein Land, das an einem Tag die Unabhängigkeit einer klassischen Wachhund-Behörde aufhebt und sie am nächsten Tag wieder einführt, genügend Glaubwürdigkeit aufweist, um als stabiles westlich-demokratisches Land zu gelten.»

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