Darum gehts
- Treffen in Istanbul: Ukraine setzt sich für Rückholung verschleppter Kinder ein
- Kinder in russischen Lagern umerzogen, misshandelt und zur Adoption freigegeben
- Mindestens 20’000 ukrainische Kinder und Jugendliche wurden nach Russland verschleppt
Seit Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine 2022 hat Russland Tausende Kinder und Jugendliche verschleppt – entweder in besetzte Gebiete oder direkt nach Russland. Sie landen in angeblichen Ferienlagern, werden umerzogen, misshandelt. Viele haben ihre Heimat nie wiedergesehen, nur wenige kehrten zurück – verändert. Die Ukraine spricht von Kriegsverbrechen.
Beim heutigen Treffen in Istanbul wollen Vertreter der Ukraine die Rückkehr dieser Kinder vorantreiben. Auch ein erweiterter Gefangenenaustausch mit Russland steht auf der Agenda, wie Präsident Wolodimir Selenski (47) im Vorfeld erklärte. Gleichzeitig dämpfte er Hoffnungen auf baldigen Frieden – Russland beharrt weiterhin auf seinen Maximalforderungen.
Erfasst, abtransportiert, umerzogen
Es geht um mindestens 20'000 Kinder und Jugendliche, die meist bei Evakuierungen aus eroberten Gebieten von ihren Eltern getrennt wurden. In Registrierungsstellen erfasst, werden sie mit Bussen in russische Gebiete gebracht, wo sie in Umerziehungslagern landen. Experten vermuten, dass die tatsächliche Zahl noch höher liegt.
Russland präsentiert diese Lager in sozialen Medien als harmlose Feriencamps. Verantwortlich für die Propaganda ist Maria Lwowa-Belowa (40), die Präsidialkommissarin für Kinderrechte und zentrale Figur der Deportationen. Immer wieder zeigt sie sich fürsorglich, umgeben von ukrainischen Kindern. Doch Berichte entführter Kinder zeichnen ein anderes Bild.
Die Russen nennen es Integration
Einer dieser Berichte stammt von Wiktor aus Cherson. Nach seiner Rückkehr in die Ukraine erzählte der 15-Jährige einer deutschen Journalistin von den Monaten in einem russisch kontrollierten Lager. Der Tag begann mit der russischen Nationalhymne, Ukrainisch war verboten. Verstösse wurden mit Isolationshaft bestraft. Auch Wiktor wurde eingesperrt – tagelang, nur in Unterwäsche. So schildert er es im Buch «Gestohlene Leben».
Auf dem Stundenplan standen russische Geschichte und Waffentraining. Die Kinder begegneten Soldaten, die gegen die Ukraine kämpften. Lwowa-Belowa bezeichnete diese Massnahmen als Integration. Wegen der Verschleppung von Kindern hat der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle gegen sie und Präsident Wladimir Putin (72) erlassen.
Kinder zur Adoption freigegeben
Wiktor konnte dank der Organisation «Save Ukraine» zurückkehren. Andere Kinder hatten weniger Glück. Recherchen zeigen, dass ukrainische Kinder – vom Kleinkind bis zum Teenager – systematisch zur Adoption freigegeben werden. Kreml-Chef Putin hat dafür die Gesetze vereinfacht. Den Kindern erzählt man oft, ihre Eltern seien tot oder hätten sie verlassen. Ihre Identitäten werden oft geändert.
Für viele Familien sind diese Kinder verloren. Vor allem kleinere Kinder vergessen nach einiger Zeit ihre Eltern. Hoffnung gibt eine DNA-Datenbank, die Sara Huston, Genetikerin an der Feinberg School of Medicine in Chicago, und Elizabeth Barnert, Kinderärztin an der University of California in Los Angeles, aufbauen. Doch Hindernisse bleiben, wie die «NZZ» berichtete.
Für die betroffenen Kinder und ihre Eltern wäre ein Erfolg der Gespräche in Istanbul ein Hoffnungsschimmer. Bei früheren Treffen im Mai und Juni hatten die Unterhändler einen grossen Gefangenenaustausch vereinbart. Dabei kamen junge Soldaten unter 25 Jahren und schwer verwundete Kämpfer frei. Ob Russland nun bereit ist, die verschleppten Kinder freizugeben, bleibt abzuwarten.