Massaker an Minderheiten
Provoziert Syriens Präsident gerade eine neue Flüchtlingswelle?

Ahmed al-Sharaa wollte eigentlich sein Land einigen. Die jüngsten Brutalitäten in der südsyrischen Provinz Suwaida aber zeigen: Syrien ist weit entfernt von Frieden und Stabilität. Im Nordosten des Landes tickt eine regelrechte Zeitbombe.
Publiziert: 22.07.2025 um 16:22 Uhr
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Aktualisiert: 22.07.2025 um 17:24 Uhr
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Das brutale Vorgehen der syrischen Armee gegen verschiedene Minderheiten im Land könnte eine neue Flüchtlingswelle provozieren.
Foto: AFP

Darum gehts

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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Schwer bewaffnete Kämpfer, die drei junge Menschen zwingen, von einem Hochhausbalkon in den Tod zu springen; ein Attentäter, der in einer orthodoxen Kirche 25 betende Menschen in die Luft sprengt; ein junger Mann, dem auf offener Strasse das Herz aus der Brust geschnitten wird. Das war es bestimmt nicht, was Donald Trump (79) meinte, als er dem syrischen Präsidenten Ahmed al-Sharaa (42) anlässlich der Auflösung aller US-Sanktionen gegen Syrien im Juni sagte: «Viel Glück, jetzt zeig uns etwas ganz Spezielles!»

Und doch sind es diese Bilder, die aus dem Bürgerkriegsland aktuell in die Welt hinausgelangen. Zuletzt zeigte sich die neue syrische Brutalität in der Stadt Suwaida, einer Hochburg der drusischen Minderheit, wo Damaskus’ Soldaten und ihre beduinischen Verbündeten mindestens 321 Menschen massakrierten. Auch der Waffenstillstand vom 17. Juli hat das Morden in Suwaida nicht beendet. Doch die lokalen Minderheiten sind nicht die Einzigen, die unter dem neuen syrischen Regime leiden. Im Nordosten des Landes tickt eine Zeitbombe, die für Europa bald sehr gefährlich werden könnte.

In der Gegend sitzen schätzungsweise 65’000 ehemalige IS-Kämpfer (oder solche, die man der Zugehörigkeit zur Terrormiliz verdächtigt) und ihre Familienangehörigen. Allein im «Panorama-Gefängnis» in der Stadt Hasaka halten die Wächter der kurdisch geprägten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) 4500 mutmassliche IS-Terroristen fest.

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Zuletzt eskalierten die Streitigkeiten zwischen der drusischen Minderheit, der syrischen Armee und den intervenierenden israelischen Streitkräften in der süd-syrischen Stadt Suwaida.
Foto: AFP

IS-Terroristen könnten freikommen

Das tun sie – nach Einschätzung internationaler Beobachter – seit dem Untergang des IS-Kalifats im Frühling 2019 vorbildlich. Mindestens wenn man von den Haftbedingungen absieht und sich nur die Ausbruchsquoten anschaut. Doch: Die SDF könnten ihren Bewachungsauftrag bald verlieren.

Syriens Präsident al-Sharaa will die kurdischen Milizen (genau wie alle anderen Minderheiten in seinem 25-Millionen-Land) entwaffnen und mit seinen eigenen Streitkräften für Sicherheit und Stabilität in ihren Gebieten sorgen. Den Segen der mächtigen Regionalmacht Türkei hat er dafür. Das türkische Aussenministerium liess sogar verlauten, Ankara würde selbst «militärisch aktiv», sollte al-Sharaa mit der Entwaffnung der Kurden nicht vorwärtsmachen.

Für die oft seit Jahren und ohne Gerichtsurteil inhaftierten IS-Kämpfer böte sich damit die vielleicht einzige Chance, je wieder freizukommen. Ahmed al-Sharaa, bis vor kurzem noch als Mohammed al-Dschulani Chef einer mächtigen sunnitischen Miliz, verspricht auf seinen Reisen in die Regierungspaläste dieser Welt zwar immer wieder, er werde dem Terror in seinem Land Einhalt gebieten.

Korruption oder gar eine Amnestie für die sunnitischen Glaubensbrüder könnten mindestens einen Teil der inhaftierten Terrorverdächtigen nach der Entmachtung der kurdischen Wächter auf freien Fuss setzen. Die amerikanische Denkfabrik Council on Foreign Relations schreibt, viele dieser Häftlinge hätten sich über die langen Jahre ihrer Haft zusätzlich radikalisiert.

Zudem sei der IS in der Region so aktiv wie seit dem Untergang des Kalifats 2019 nicht mehr. Alleine von 2023 auf 2024 hätten sich die Anschläge, zu denen sich der Islamische Staat bekannt habe, verdoppelt. Kurdische Behörden im Nordosten Syriens warnen zudem, das faktische Machtvakuum, das nach dem Sturz des Assad-Regimes in den ländlichen Gegenden des Landes anhalte, könnten Terrorgruppen nutzen, um sich neu zu formieren.

Niemand stellt in der Schweiz mehr Einreiseanträge als Syrer

Zu was das führen kann, zeigte sich am 22. Juni, als sich ein mutmasslich aus einem syrischen IS-Knast entflohener Selbstmordattentäter in einer griechisch-orthodoxen Kirche in Damaskus in die Luft sprengte und mindestens 25 Menschen mit in den Tod riss.

Wahlen dürfte es in Syrien laut Präsident al-Sharaa frühestens in vier bis fünf Jahren geben. Bis dahin (und mutmasslich darüber hinaus) bleibt das Land ein Flickenteppich an Stämmen und Volksgruppen, die – befreit vom alles unterdrückenden Assad-Regime – alle ihren eigenen, oft miteinander in Konflikt stehenden Visionen nacheifern.

Heute schon stellen Syrer in Europa eine der grössten Flüchtlingsgruppen dar. Die fragile, von brutaler Gewalt geprägte Lage im Land könnte sich rasch in neuen Flüchtlingsbewegungen äussern. In der Schweiz bilden Syrer hinter den Eritreern aktuell die zweitgrösste Gruppe der Asylbewerber. Rund die Hälfte der 28’000 Syrer im Land erhält Schutz. Nach der Machtergreifung von al-Sharaa legte allerdings auch die Schweiz – wie die meisten europäischen Länder – die Behandlung syrischer Gesuche auf Eis.

Trotzdem waren Ende Juni laut dem Staatssekretariat für Migration 733 Einreiseanträge syrischer Staatsbürger hängig: so viele wie aus keinem anderen Land der Welt.

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