Darum gehts
Die Bilder aus Suwaida sind dramatisch: Rauch über Wohnvierteln, Verletzte auf Pickups, verzweifelte Stimmen. Im Süden Syriens eskaliert die Gewalt – und Israel mischt mit. Seit Tagen fliegt die israelische Armee Angriffe auf syrische Militärstellungen und sogar auf das Verteidigungsministerium in Damaskus.
Premier Benjamin Netanyahu (75) rechtfertigt die Offensive mit dem Schutz der Drusen, einer religiösen Minderheit, die zwischen die Fronten geraten sind. Doch hinter der Solidaritätsrhetorik steckt weit mehr: Geopolitik, Koalitionskalkül – und der Versuch, sich inmitten einer schweren innenpolitischen Krise zu retten.
Militärische Linie trifft politisches Kalkül
Mehr als 350 Menschen sind in der Provinz Suwaida bereits gestorben. Drusische Milizen liefern sich dort heftige Gefechte mit sunnitischen Beduinenclans. Als das syrische Militär eingreift, reagiert Israel sofort: gezielte Luftschläge auf syrische Truppen, angeblich zum Schutz der Drusen. Rund 700’000 von ihnen leben in Syrien – doch auch in Israel selbst hat die Minderheit Bedeutung. Etwa 150’000 Drusen leben dort, viele dienen in der Armee, gelten als loyal zum Staat. Ihre besondere Stellung – im Unterschied zu anderen arabischen Minderheiten – wird in Israel oft als «Blutsbündnis» bezeichnet. Für Netanyahu also ein idealer Anlass, militärische Stärke mit moralischer Legitimation zu verbinden.
Doch nicht nur das Verhältnis zu den Drusen macht Suwaida für Israel relevant. Seit dem Sturz von Syriens Diktator Baschar al-Assad im Dezember 2024 regiert in Damaskus ein islamistisches Übergangsregime unter Präsident Ahmed al-Sharaa – instabil, von Milizen gestützt, und aus Sicht Israels ein Risiko.
Israel will keine gefestigte syrische Militärpräsenz an seiner Nordgrenze. Schon seit Jahren verfolgt man das Ziel einer entmilitarisierten Zone südlich von Damaskus. Die aktuellen Luftschläge fügen sich nahtlos in diese Linie ein: keine starke Zentralmacht in Syrien, keine neuen Bedrohungen im Grenzgebiet.
Dass ausgerechnet jetzt israelische Bomben fallen, kommt für Netanyahu politisch nicht ungelegen. Der Premier steht unter massivem Druck. Seine rechts-religiöse Koalition ist ins Wanken geraten: Zwei ultraorthodoxe Parteien haben die Regierung verlassen, weil sie Zugeständnisse bei der Wehrpflicht ihrer Anhänger fordern. Die streng religiösen Gemeinschaften lehnen den Armeedienst ab – aus religiösen Gründen. Gleichzeitig fordert die säkulare Rechte gleiche Pflichten für alle. Der Streit ist ein Dauerbrenner in der israelischen Gesellschaft – und für Netanyahu brandgefährlich.
Sicherheitslage als innenpolitisches Argument
Mit dem Militäreinsatz schafft er ein neues Narrativ. Plötzlich geht es nicht mehr nur um Pflichten, sondern um Bedrohung. Und in so einem Klima lässt sich die Debatte neu aufladen: Wer Ausnahmen fordert, stellt sich gegen die nationale Sicherheit. Besonders brisant: Auch viele Drusen leisten Wehrdienst – ein Umstand, den Netanyahu nun betont hervorhebt. Die Botschaft ist deutlich: Während andere kämpfen, kann sich niemand herausnehmen. So wird der Einsatz in Syrien auch zum politischen Signal an die eigene Koalition.
International wächst derweil die Kritik. Die USA, traditionell Israels engster Partner, zeigen sich zunehmend ungeduldig. Präsident Donald Trump drängt auf eine Waffenruhe im Gazastreifen und auf diplomatische Schritte gegenüber Syrien. Aussenminister Marco Rubio (54) erklärte öffentlich, man habe mit syrischen und arabischen Partnern konkrete Schritte vereinbart, um die Gewalt in Suwaida zu beenden. Israels Angriffe aber gingen weiter – auch nach dem angeblichen Rückzug syrischer Truppen. Auch zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen kommt es weiterhin zu Zusammenstössen.
Taktische Eskalation statt Rückzug
Washington dürfte genau beobachten, wie Netanyahu agiert. Denn in den USA nimmt die Skepsis gegenüber dem israelischen Kurs zu – besonders in Wahlkampfzeiten. Netanyahu wiederum versucht, sich Luft zu verschaffen: nach aussen mit Härte, nach innen mit Kontrolle der politischen Erzählung.
Die Offensive in Syrien erfüllt dabei mehrere Funktionen gleichzeitig. Sie signalisiert aussenpolitische Stärke, sie bedient geopolitische Interessen – und sie verschafft einem Premier in Not Zeit.