Darum gehts
Benjamin Netanyahu (75) hat es immer wieder versprochen: Nur noch eine Offensive, dann sei die Hamas besiegt. Erst Rafah im Süden, dann eine Grossoperation im Mai – und jetzt also Gaza-Stadt. Am Freitag beschloss Israels Sicherheitskabinett, die Eroberung der wichtigsten Stadt des Gazastreifens vorzubereiten. Der Beginn? Frühestens in einigen Wochen. Das Ziel? Laut Netanyahu: «Hamas entfernen, Gaza an arabische Kräfte übergeben.» Die Realität? Ein Déjà-vu – und die Gefahr, erneut in einer strategischen Sackgasse zu landen.
Eine vollständige Kontrolle über Gaza wäre weit mehr als ein militärisches Manöver. Israel müsste nicht nur Strassen und Stadtviertel sichern, sondern auch Versorgung, Ordnung und Verwaltung gewährleisten – in einer Region, in der fast jede Infrastruktur zerstört ist. Millionen Palästinenser würden unter direkte israelische Besatzung fallen. Für viele Beobachter wäre das ein Rückfall in die Zeit vor 2005, als Israel den Gazastreifen räumte. Nur dass Gaza heute weit stärker zerstört, verarmt und traumatisiert ist.
Die Folgen wären absehbar: ein endloser Guerillakrieg gegen israelische Truppen, noch grössere humanitäre Katastrophen – und ein politischer Flächenbrand in der arabischen Welt. Denn offiziell will der Premier nach der Eroberung «arabische Kräfte» einsetzen, die Gaza verwalten – nicht die Hamas, nicht die Palästinensische Autonomiebehörde. Wer diese Kräfte sein sollen? Völlig unklar. Saudi-Arabien, Ägypten und Jordanien winken ab. Und selbst wenn sich ein arabisches Kontingent finden liesse: Ohne klaren Friedensplan wäre es nur ein Feigenblatt, hinter dem Israel weiterhin Sicherheitskontrolle ausübt.
Arabische Staaten winken ab
Die meisten arabischen Regierungen haben bereits klargemacht: Eine Beteiligung am Wiederaufbau oder an der Verwaltung Gazas gibt es nur, wenn die Palästinensische Autonomiebehörde offiziell eingeladen – und Israel nicht die Besatzungsmacht ist. Netanyahus aktuelle Pläne schliessen genau das aus.
Inoffiziell sehen viele in Netanyahus Strategie vor allem innenpolitische Motive. Ein Angriff auf Gaza-Stadt könnte die extremen Rechten in seiner Koalition bei Laune halten, die eine dauerhafte israelische Präsenz – manche sogar eine Annexion – fordern. Gleichzeitig verschafft ihm die Drohung Zeit: Solange eine Offensive vorbereitet wird, ist ein Sturz seiner Regierung unwahrscheinlicher.
Wachsende internationale Kritik
Während Netanyahu im Inland rechte Hardliner stärkt, isoliert er Israel international weiter. Deutschland verhängte bereits am Freitag einen teilweisen Waffenlieferstopp, um den Einsatz deutscher Rüstungsgüter im Gazastreifen zu verhindern. Kanzler Friedrich Merz spricht vom «unerträglichen Leid» der Zivilbevölkerung, das Israel mit der neuen Offensive noch stärker zu verantworten habe. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (66) fordert Israel auf, eine weitere militärische Eskalation im Gazastreifen zu hinterfragen. «Die Entscheidung der israelischen Regierung, ihre Militäroperation im Gazastreifen weiter auszuweiten, muss überdacht werden», schrieb sie auf der Plattform X.
Für die Familien der noch immer festgehaltenen Geiseln ist der Plan ein Albtraum. Sie fürchten, dass ein Grossangriff die Hamas zu Hinrichtungen treiben oder israelische Soldaten versehentlich ihre Angehörigen töten könnte. Auch Hilfsorganisationen warnen, dass eine Offensive mitten in einer Hungersnot unzählige weitere zivile Opfer fordern würde.
Militär skeptisch, Risiko hoch
Selbst in der israelischen Armeeführung wächst die Skepsis. Generalstabschefs halten die Hamas militärisch für stark geschwächt, sehen in einer kompletten Übernahme aber den Einstieg in einen jahrelangen, blutigen Kleinkrieg. Kritiker sprechen von einem «Fass ohne Boden», das Israel dauerhaft bindet – ohne Aussicht auf politischen Gewinn.
Netanyahu selbst deutet an, dass Israel Gaza nicht ewig behalten will. Doch solange er an «dauerhafter Sicherheitskontrolle» festhält und arabische Partner ausschliesst, wirkt das Versprechen wie eine rhetorische Nebelwand. Mehr noch: Mit jedem weiteren «letzten Schlag» scheint ein echter Ausweg aus diesem Krieg in noch weitere Ferne zu rücken.
Die Frage bleibt: Führt Netanyahus Plan wirklich zum Sieg – oder nur tiefer in eine Sackgasse, aus der keiner mehr herausfindet?