Mohammed Zakaria al-Mutawaq ist 18 Monate alt. Auf einem Foto sieht man ihn ausgemergelt, seine Wirbelsäule tritt hervor, sein Blick ist leer. Das Bild, welches am Freitag die Titelseite der «New York Times» schmückte, ging um die Welt – es wurde zum Symbol für die humanitäre Katastrophe in Gaza. «Gesund geboren – aber nun leidet er an Mangelernährung», war das Bild untertitelt. Zahlreiche Publikationen nahmen die Geschichte und das Bild auf.
Doch später stellte sich heraus: Mohammed leidet an Zerebralparese, einer schweren neurologischen Erkrankung. Die US-Zeitung platzierte im Nachhinein eine kleine Korrektur. Pro-israelische Aktivisten werfen der Zeitung trotzdem Desinformation vor. Ob gewollt oder nicht: Die Darstellung war teilweise falsch – oder zumindest unvollständig. Und sie wurde, wie so vieles in diesem Krieg, zur Waffe. So funktioniert der «Nebel des Krieges».
Gaza hungert – wer ist daran schuld?
Während internationale Organisationen vor einer Hungersnot warnen, liefern sich Israelis und Palästinenser – und die jeweiligen Unterstützer – einen wüsten Streit um Bilder von hungernden Kindern. Das Problem: Die Realität vor Ort ist für viele nicht mehr direkt überprüfbar.
«Die Verbreitung visueller Desinformation ist gerade während gewaltsamer Konflikte extrem problematisch. Sie kann Vertrauen in etablierte Informationsquellen zerstören – und das nutzen Akteure gezielt aus», sagt Isabel Prinzing vom Schweizer Friedensforschungsinstitut swisspeace. Als gutes Beispiel dient der Fall der «New York Times». Gerade weil solche Bilder so stark wirken, ist ihr Missbrauch so wirkmächtig.
Der Nebel des Krieges – ganz wörtlich
Zugang zu Gaza gibt es kaum. Israel kontrolliert die Grenzübergänge und lässt internationale Presse nur sehr eingeschränkt passieren. Was bleibt, sind sekundäre Quellen: Bilder, Videos, NGO-Berichte – und Erzählungen, die von politischen Akteuren mit maximaler Absicht selektiert, verbreitet oder entwertet werden. Genau das ist der Mechanismus des «Fog of War», des Nebels des Krieges: Wenn Informationen rar sind, gewinnen Bilder überproportional an Bedeutung – und werden entsprechend zur Waffe.
«In diesem Konflikt werden Informationen gezielt hergestellt, aus dem Zusammenhang gerissen oder manipuliert. Das beeinflusst massiv, wie wir über die Lage denken», sagt Isabel Prinzing von swisspeace. Das sei ein Zeichen dafür, dass Desinformation inzwischen einen entscheidenden Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung habe. Eine Vorsätzlichkeit zu beweisen, sei allerdings schwer.
Das Kind als Symbol – und als politisches Instrument
Das Foto des kleinen Mohammed steht sinnbildlich für die Katastrophe – aber auch für die mediale Falle, in die viele Publikationen getappt sind. Denn: Auch ein krankes Kind sollte nicht so aussehen. Doch als die Krankheit bekannt wurde, schlug das Pendel sofort um. «Im Fall von Gaza kann visuelle Desinformation dazu führen, dass wir die Lage als weniger dramatisch wahrnehmen und weniger Empathie zeigen», erklärt Prinzing.
Heisst: Die Hamas profitierte vom ersten Eindruck. Israel vom Zweifel danach. Dass das Bild zunächst ohne Kontext verbreitet wurde, spielte den Propagandainteressen Hamas-naher Kreise in die Hände: Es erzeugte maximale moralische Empörung.
Doch genauso schnell nutzte die israelische Regierung die spätere Korrektur, um die Glaubwürdigkeit der gesamten Hungerberichterstattung zu erschüttern – ganz nach dem Motto: «Wenn dieses Bild falsch ist, was ist dann noch wahr?» Beide Seiten missbrauchen das gleiche Bild – für entgegengesetzte Zwecke. Die Folge: Die internationale Öffentlichkeit verliert die Orientierung. Fakten lösen sich im Nebel auf.
Aufmerksamkeit ist Macht
In einem derart aufgeladenen Konflikt entscheidet nicht allein, was geschieht – sondern wie darüber gesprochen, gezeigt und geglaubt wird.
Wer die globale Wahrnehmung kontrolliert, gewinnt realpolitischen Einfluss: über diplomatische Debatten, Hilfsgelder, Sanktionen und Narrative. Doch wenn jede Seite die Bilder für sich reklamiert, und jede Einordnung mit einem «Ja, aber...» beginnt, bleibt am Ende vor allem Unsicherheit.
Was tun?
In dieser Lage bleiben nur wenige verlässliche Stimmen: Hilfsorganisationen wie Médecins Sans Frontières (MSF), das Welternährungsprogramm (WFP), OCHA oder Unicef berichten direkt aus dem Feld.
Sie sind keine perfekten Quellen, aber sie sind vor Ort. «Man sollte sich immer fragen: Woher kommt diese Information? Wer verbreitet sie und mit welchem Interesse?», rät Expertin Prinzing.