Über 80 Kinder in Gaza seit April verhungert
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«Zustände sind unerträglich»:Über 80 Kinder in Gaza seit April verhungert

47 Hungertote diese Woche
Neues Gaza-Hilfssystem lockt Verzweifelte in «Todesfallen»

Der Horror im palästinensischen Küstenstreifen geht in die nächste Phase: Täglich verhungern mehr Frauen und Kinder. Israelische Minister diskutieren Räumungspläne. Und ein mächtiger europäischer Politiker setzt neu auf Konfrontation mit Israel.
Publiziert: 00:50 Uhr
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Aktualisiert: vor 57 Minuten
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Die Anzahl der mangelernährten Kinder in Gaza hat sich binnen zwei Wochen verdreifacht, besagt die Patientenstatistik der internationalen Hilfsorganisation von Ärzte ohne Grenzen.
Foto: keystone-sda.ch

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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Das Grauen in Gaza könnte man leicht vergessen. Augenzeugenberichte aus dem kaputtgebombten Küstenstreifen, in dem 2,2 Millionen Menschen ums Überleben kämpfen, sind zusehends rar. Denn: Israel hindert nicht nur Journalisten an der Einreise in die Hungerzone, sondern neuerdings auch fast alle Hilfswerke.

Im Mai hat Jerusalem die Zwangsschliessung von rund 400 Lebensmittelausgabestellen angeordnet. Nur noch die von Israel betriebene und von den USA finanzierte Gaza Humanitarian Foundation, die ganz im Süden Gazas gerade mal vier Essensausgabestellen betreibt, ist zugelassen. 47 Frauen und Kinder sind allein diese Woche in Gaza verhungert. In den kommenden Tagen droht die Situation weiter zu eskalieren.

Davor warnt die internationale Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Sie behandelt in ihrem Spital in Gaza-Stadt dreimal mehr mangelernährte Kinder als noch vor zwei Wochen. Selbst Ärztinnen und Helfer würden inzwischen regelmässig in Ohnmacht fallen – aus Überlastung und wegen Hunger.

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Die Anzahl der mangelernährten Kinder in Gaza hat sich binnen zwei Wochen verdreifacht, besagt die Patientenstatistik der internationalen humanitären Hilfsorganisation Ärzten ohne Grenzen.
Foto: keystone-sda.ch

Uno bezeichnet Essensausgabestellen als «Todesfallen»

Das im Mai von Israel eingeführte neue Nahrungsmittel-Verteilsystem hat die menschengemachte Krise verschärft. Die Einstellung des alten Hilfssystems mit mehreren Hundert Ausgabestellen begründete Benjamin Netanyahus (75) Regierung damit, dass ein wesentlicher Teil der Güter in den Händen der Hamas-Terroristen gelandet sei. Die Uno widersprach dieser Darstellung.

Um überhaupt noch an ein paar Kartoffeln, ein bisschen Mehl oder einen Sack Reis zu gelangen, müssen hungrige Menschen jetzt deshalb lange Wanderungen durch die zwangsevakuierten Zonen zu den von amerikanischen Söldnern bewachten «Gaza Humanitarian Foundation»-Verteilstellen auf sich nehmen. Fast täglich kommt es rund um diese Ausgabestellen zu tödlichen Auseinandersetzungen. Mehr als 1000 wartende Menschen wurden seit Mai erschossen, über 7000 verletzt. Israel sagt, man untersuche die Fälle. Währenddessen geht das Sterben in Gaza weiter.

170 Hilfswerke haben das Vorgehen der Gaza Humanitarian Foundation scharf kritisiert. Philippe Lazzarini (61), Chef des Uno-Palästinenserhilfswerks UNRWA, bezeichnet die vier Ausgabestellen als «Todesfallen». Die Forschungsinstitution Arab Center in Washington D.C. spricht von «militärisch organisierter Aushungerung».

Mohammed Abu Mughaisib, medizinischer Koordinator von Ärzte ohne Grenzen in Gaza, sagt: «Diese Lebensmittelverteilungen sind keine humanitäre Hilfe, sondern Kriegsverbrechen am helllichten Tag.» Wer zu einer der Lebensmittelverteilungen der Gaza Humanitarian Foundation gehe, der wisse: «Die Chance, einen Sack Mehl zu erhalten, ist gleich gross wie die Chance, eine Kugel in den Kopf zu kriegen.»

Versorgung der Gaza-Bevölkerung wäre an sich kein Problem

Dabei wäre effiziente Hilfe für die 2,2 Millionen Gaza-Bewohner, die auf einem Teil des Streifens mit der Grösse der Stadt St. Gallen zusammengepfercht ausharren, eigentlich kein Problem. «Wir könnten den Gaza-Streifen flächendeckend versorgen», sagt Martin Frick, Direktor des Uno-Welternährungsprogramms, zu ZDF. Seine Organisation habe 140'000 Tonnen Lebensmittel an der Grenze bereitgestellt. Während des Waffenstillstands im Frühling habe man täglich bis zu 700 Lastwagen voller Güter – alle kontrolliert von der israelischen Armee – in den Küstenstreifen gebracht.

Voraussetzung dafür wäre ein Waffenstillstand, ein Ende des Kriegs, der laut den palästinensischen Behörden bereits mehr als 59'000 Tote und 142'000 Verletzte gefordert hat. Doch die Verhandlungen über eine neue Kampfpause, während der auch die Hälfte der 20 noch lebenden israelischen Geiseln hätten freikommen sollen, sind Ende Woche in Katar gescheitert. Die Konsequenz: andauernde Ungewissheit für die Angehörigen der Entführten – und aller Voraussicht nach täglich neue Hungertote in Gaza.

Politisch droht die Lage nun ebenfalls zu eskalieren. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (47) hat Ende Woche bekannt gegeben, dass sein Land Palästina als Staat anerkennen werde. Die USA reagierten brüskiert und liessen via ihren Israel-Botschafter Mike Huckabee ausrichten, Frankreich solle doch «einen Teil seiner Riviera hergeben und da einen Palästinenserstaat gründen». US-Präsident Donald Trump (79) schob nach, was Macron sage, habe «sowieso kein Gewicht».

Israel-Minister will Gaza räumen und 850'000 Wohnungen bauen

In Israel diskutierten rechtsradikale Abgeordnete und Regierungsvertreter – darunter Finanzminister Bezalel Smotrich (45) – diese Woche derweil ihren «Masterplan für die Besiedlung des Gaza-Streifens». Sie wollen die Palästinenser nach Afrika umsiedeln und in Gaza 850'000 Wohnungen für jüdische Siedler bauen. Das sei nicht nur «ein historisches Recht», sondern «eine nationale Verpflichtung», steht im Umsiedlungsplan, der dem britischen «Guardian» vorliegt.

In Zeiten, in denen sogar der US-Präsident über zukünftige Luxus-Resorts an der «Gaza Riviera» fabuliert, sind die völkerrechtswidrigen Fantasien von Smotrich und Konsorten wenig überraschend.

Trumps Aussendepartement, übrigens, liess vergangene Woche in Dubai 500 Tonnen kalorienreiche Notnahrungsbiskuits verbrennen, die für hungernde Kinder unter fünf Jahren gedacht gewesen wären. Nach der faktischen Einstellung der staatlichen Hilfsorganisation USAID lag die kostbare Ware herum und lief ab. In Gaza hätte man für die Biskuits womöglich eine sinnvollere Verwendung gefunden. Über das Ablaufdatum auf den lebensrettenden Biskuits hätte sich wohl niemand beklagt.

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