Drohnenaufnahmen zeigen die schweren Schäden
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Rischon LeZion in Israel:Drohnenaufnahmen zeigen die schweren Schäden

Hat sich Israels Premier übernommen?
Benjamin Netanyahus schwerster Kampf

Mit der Operation «Aufsteigender Löwe» riskiert Benjamin Netanyahu einen Krieg im gesamten Nahen Osten. Seinen Angriff auf den Iran betrachtet er als Einsatz für die Existenz Israels – und für sein politisches Überleben.
Publiziert: 14.06.2025 um 23:35 Uhr
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Aktualisiert: 10:34 Uhr
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Benjamin Netanyahu geht mit dem Angriff auf den Iran aufs Ganze.
Foto: Getty Images

Darum gehts

  • Netanyahu startet Operation gegen iranisches Atomprogramm und riskiert einen weitreichenden Krieg
  • Der Angriff soll Israels Sicherheit gewährleisten – aber auch Netanyahu innenpolitisch nutzen
  • Seit 2020 steht Netanyahu wegen Korruption und Betrug vor Gericht
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Am Donnerstag steht Israels Premier Benjamin Netanyahu (75) vor der Klagemauer am Tempelberg in der Jerusalemer Altstadt, der heiligsten Stätte des Judentums. Er steckt einen kleinen Zettel zwischen die Kalksteinblöcke: «Ein Volk wie ein Löwe, der aufsteht / wie ein Raubtier, das sich erhebt» lauten die hebräischen Schriftzüge – ein Vers aus der Thora. Und eine versteckte Botschaft.

Wenige Stunden darauf startet das israelische Militär die Operation mit dem Namen «Rising Lion», zu Deutsch «Aufsteigender Löwe»: 200 Kampfjets fliegen in mehreren Wellen hoch präzise Angriffe auf hohe Militärs, Wissenschaftler, Atomanlagen und militärische Einrichtungen im Iran.

Netanyahu richtet sich in der Nacht per Videobotschaft an die Welt: Die «Tyrannen von Teheran» stünden kurz davor, eine Atombombe zu bauen, behauptet er. Nach dem vom Naziregime verübten Holocaust vor 80 Jahren sei der jüdische Staat nicht bereit, nun zum Opfer eines nuklearen Holocaust zu werden.

Der Premier will handeln wie sein grosses Vorbild Winston Churchill (1874–1965) und die Vernichtung Israels durch den Iran verhindern – ganz so, wie die Alliierten einst Nazi-Deutschland in die Knie zwangen. Damit allerdings riskiert er einen uneingeschränkten Krieg, der ihn, sollte Israel unterliegen, den Kopf kosten wird – und den er viele Jahre trotz massiver Drohungen gescheut hat.

Israel beschützen

Aus welchem Grund nur setzt er nun gerade in diesem Moment alles aufs Spiel?

Der mittlerweile 75-Jährige, in seiner Heimat von allen nur «Bibi» genannt, hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, eine iranische Atombombe zu verhindern. Netanyahu wähnt sich im ständigen Kampf um die Existenz Israels. Das war bei seinem Vater nicht anders: Der Historiker und Zionist zweifelte zeitlebens am Fortbestand des Judenstaates.

In den 20 Jahren, die Benjamin Netanyahu mit Unterbrüchen im Büro des Premierministers verbracht hat, war es sein Ziel, Israel gross und mächtig zu machen, weshalb für ihn stets im Mittelpunkt seiner Politik stand, dass dieses kleine Land nur mit militärischer Dominanz im Nahen Osten bestehen kann. «Ich möchte als Beschützer Israels in Erinnerung bleiben», sagte er 2016 in einem Interview mit CNN.

Mehrfach liess der Premier, Mitglied der rechtskonservativen Partei Likud, Pläne für einen Angriff auf das iranische Nuklearprogramm ausarbeiten – gegen die Machtansprüche eines schiitischen Regimes, das sich die Auslöschung des israelischen Staates und von dessen westlichen Verbündeten inklusive USA zum Ziel gesetzt hat. Doch den roten Knopf gedrückt hat Netanyahu nie. Abwechselnd wurde ihm sein Zögern als Besonnenheit oder als Zaudern ausgelegt.

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Der Terrorüberfall als Zäsur

Dann kam der 7. Oktober 2023 – und veränderte alles.

Der Terrorüberfall der islamistischen Hamas an diesem Tag traf Israel mitten ins Herz. Die Glaubwürdigkeit Netanyahus als «Mr. Security» sank fast auf null. Nur weil der Gaza-Krieg Priorität vor der Aufarbeitung des Versagens von Regierung und Sicherheitsbehörden geniesst, konnte er sich an der Macht halten. Kritiker werfen ihm deshalb vor, dies sei für ihn das wichtigste Motiv, in dem Küstenstreifen immer weiter Krieg zu führen.

Zugleich verschiebt der Konflikt die Machtverhältnisse in Nahost nach und nach zugunsten Israels. Die Hamas ist keine echte Bedrohung mehr, der Hisbollah im Libanon ist durch Luftschläge und gezielte Anschläge auf sein Führungspersonal entscheidend geschwächt. Und den Sturz des Assad-Regimes nutzte Israel zur Zerstörung der wichtigsten Militäranlagen in Syrien.

Damit ist die von Iran angeführte «Achse des Widerstands» bereits zerbrochen und die Islamische Republik so schwach wie nie zuvor. Die Voraussetzungen für einen direkten Militärschlag gegen Iran hatten sich deutlich verbessert.

Ein wichtiges Hindernis, das aus Sicht des Regierungschefs in Jerusalem den Weg zu einem kompletten Sieg versperrt, ist das Interesse von Donald Trump (79), doch noch einen Atom-Deal mit den Mullahs zu erreichen. Netanyahu hat ein Abkommen mit dem Iran stets abgelehnt, Kompromisse mit dem Mullah-Regime waren für ihn nie eine Option. Für ihn gibt es nur zwei gangbare Wege: Entweder Teheran verzichtet freiwillig auf sein komplettes Atomprogramm – oder Israel sorgt militärisch dafür.

Netanyahu bevorzugte immer die zweite Option – obwohl sich Irans Atomprogramm durch Israel nicht einfach wegbomben, sondern bestenfalls verzögern lässt. Und nun sitzt mit Donald Trump ein Präsident im Weissen Haus, der ihn machen lässt.

Das iranische Regime muss weg

Ob Iran tatsächlich kurz davor steht, eine Atombombe zu bauen, lässt sich nicht abschliessend feststellen. Die Reaktionen westlicher Regierungschefs und der Internationalen Atomenergiebehörde geben immerhin Hinweise darauf. Doch Netanyahu geht es ohnehin um mehr als die Anreicherung von Uran. Er will eh den Sturz des Regimes in Teheran.

Die jüngste Ansprache, die er anlässlich der Bombardierung von Iran hielt, lässt an dieser Absicht keinen Zweifel. Der Premier richtet sich direkt an das «stolze iranische Volk»: Die Operation solle auch «den Weg für euch ebnen, eure Freiheit zu erlangen». Die Zeit sei gekommen, dass sich das iranische Volk um seine Flagge und sein historisches Erbe versammle, indem es für die Befreiung von diesem «bösen und unterdrückerischen Regime» aufsteht.

Ein Umsturz in dem schiitischen Gottesstaat würde das Ende der Islamischen Revolution bedeuten, als Israel und Iran zu Erzfeinden wurden. Kein Zufall also, dass Netanyahu seine Militäroperation «Aufsteigender Löwe» getauft hat. Bis zur Machtergreifung der Mullahs im Jahr 1979 prangte auf der iranischen Flagge ein Löwe mit Schwert – Symbol für die Herrschaft des Schahs und die göttliche Macht.

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Innenpolitisch steht er unter Druck

Schutz Israels, Befreiung des iranischen Volks – all das klingt nicht nur menschenfreundlich, sondern auch selbstlos. Aber das ist es eher nicht: Netanyahu will mit dem neuen Krieg auch seine Haut retten.

Der Premierminister hängt in den Seilen, seiner in Teilen rechtsextremen Regierung droht das Aus. Netanyahu selbst steht seit 2020 wegen Betrugs, Veruntreuung und Korruption vor Gericht. Und die massenhaften Proteste gegen seine Justizreform, mit der er die Gerichte schwächen wollte, fanden 2023 lediglich wegen des Hamas-Terrors ein jähes Ende.

Die gegenwärtige Eskalation sorgt nicht zuletzt für Ablenkung von der in dieser Form nie dagewesenen internationalen Kritik, die Israel wegen des andauernden Gaza-Kriegs entgegenschlägt. Die Vereinten Nationen und NGOs werfen Netanyahus Regierung Menschenrechtsverletzungen vor, Israel soll im Gazastreifen Hunger als Waffe einsetzen und eine Entvölkerung vorantreiben. Diese Stimmen dürften zunächst leiser werden.

Dasselbe gilt für die Forderung nach einem wirklichen Palästinenserstaat, den Netanyahu schon immer ablehnte. Am Dienstag hätte auf Initiative von Frankreich und Saudi-Arabien eine Konferenz beginnen sollen, um die Frage nach einer Zwei-Staaten-Lösung voranzubringen. Das Treffen in New York ist bis auf Weiteres abgesagt.

Mit dem Angriff auf das iranische Nuklearprogramm kann sich Benjamin Netanyahu nun erneut in seiner Lieblingsrolle als «Mr. Security» profilieren. Vielleicht gelingt es ihm mit einem Erfolg als Kriegs-Premier, den Kopf noch einmal aus der Schlinge zu ziehen. Die grosse Mehrheit der Israelis steht seit dem Angriff auf Iran wieder hinter ihm.

Sollte er keinen Erfolg haben, wäre das Ende seiner politischen Karriere besiegelt. «Bibi» kämpft möglicherweise seinen letzten, entscheidenden Kampf.

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