Darum gehts
Sein Lächeln war teuflisch, seine Nachricht glasklar: «Entweder die ukrainischen Truppen ziehen sich freiwillig aus dem Donbass zurück, oder wir befreien die Gebiete mit Gewalt.» Das machte Kreml-Chef Wladimir Putin (73) im Interview mit dem indischen Staatsfernsehen am Donnerstag deutlich. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (47) schliesst die freiwillige Gebietsaufgabe bislang aus.
Knapp 85 Prozent des Gebietes (bestehend aus den Regionen Donezk und Luhansk) kontrolliert Russland bereits. Rund 6000 Quadratkilometer (ungefähr die Grösse des Wallis) bleiben in ukrainischer Hand. Gäbe die Ukraine die Gebiete auf, wäre das ganze Land verloren – aus drei Gründen.
Die Ukraine hat keine Alpen, in die sie sich im Ernstfall zurückziehen könnte. Kiews «Réduit», wenn man den Vergleich zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg machen will, ist der Festungsgürtel im westlichen Donbass: genau jene Gegend, die das Land laut Putin freiwillig aufgeben soll.
Die Städte Slowjansk (120’000 Einwohner), Kramatorsk (160’000), Durschkiwka (60’000) und Kostjantiniwka (75’000) bilden einen Wall, der die russischen Angreifer vor dem Durchmarsch in die weite Leere der Zentralukraine hindert. Sie aufzugeben, wäre taktisch etwa so geschickt, wie wenn die Schweizer Armee bei einem Angriff ihre Bergbunker verliesse und sich in die Wälder des flachen Mittellands zurückzöge. Aargau statt Alpen, Felder statt Festungsstädte: Das macht militärisch keinen Sinn.
Hinter den Festungsstädten hat die Ukraine eine zweite «Donbass-Linie» errichtet: ein weit verzweigtes System an Gräben, Panzersperren und Festungsanlagen. Putin wird sich das Gebiet kämpfend holen müssen. Laut Experten des Instituts für Kriegsstudien (ISW) bräuchte seine Armee bei gleichbleibendem Effort dafür mindestens bis im August 2027.
Selbst wenn die ukrainische Regierung ihr Wort brechen und den Rückzugsbefehl erteilen würde, bliebe unklar, was auf dem Schlachtfeld tatsächlich geschähe. Viele der Brigaden, die im Donbass kämpfen, tun das seit Russlands erstem Angriff 2014 ununterbrochen. Ohne militärische Not werden sie ihre während all dieser Zeit verteidigten Positionen nicht kampflos aufgeben.
Diese Annahme bestätigen Interviews des Senders NBC mit Kommandanten verschiedener Donbass-Einheiten. Wolodimir Rzhavskyi, Kommandant einer Drohnen-Einheit, sagt stellvertretend für viele: «Wenn der Rückzugsbefehl ohne glaubwürdige Erklärung käme, würde ich ihn nicht umsetzen.»
Viele der ukrainischen Brigaden sind in Teilen privat finanziert und beschaffen sich ihre Ausrüstung mithilfe internationaler Unterstützer. Einige der einflussreichsten Einheiten (etwa die Asow-Brigade) kämpften bis vor wenigen Jahren als nichtstaatliche, private Kampfverbände. Ein Rückzugsbefehl könnte dazu führen, dass sich diese Truppen von Selenski abwenden und wieder auf eigene Faust kämpfen. Eine vorschnelle, freiwillige Aufgabe der wichtigen Donbass-Stellungen wäre insgesamt für die Moral der ukrainischen Armee ein extrem harter Schlag.
Die ukrainische Verfassung lässt eine Aufgabe von Territorium gar nicht zu. Artikel 2 hält fest, dass das «Territorium der Ukraine unteilbar und unverletzbar» sei. Artikel 73 besagt, dass jegliche Veränderungen der ukrainischen Staatsgrenzen durch eine Volksabstimmung abgesegnet werden müssen.
Selbst wenn sich eine nationale Abstimmung überhaupt durchführen liesse (was im Kriegszustand undenkbar ist): Eine Mehrheit der Ukrainer äussert sich in Umfragen negativ zur Idee, Gebiete abzugeben. Selenski wären also so oder so die Hände gebunden. Eine Aufgabe des Donbass wäre ein Verfassungsbruch – und damit Garant für eine Staatskrise, die das kriegsgeschüttelte Land kaum überstehen würde.
Fazit: Schafft es Putin dennoch, sich den Donbass auf dem einen oder anderen Weg zu rauben, wird er für seinen brutalen Angriffskrieg belohnt. Das würde ihn (und andere autoritäre Herrscher) ermutigen, weitere Angriffskriege anzuzetteln. Die regelbasierte Ordnung, in der eben nicht einfach der Stärkere den Schwächeren alles vorschreibt und von der gerade kleine Länder wie die Schweiz massiv profitieren, wäre Geschichte. Wir tun deshalb gut daran, auch weit, weit hinter den ukrainischen Festungswällen dankbar zu sein für den blutigen Widerstand, den die Ukraine im Donbass leistet.