Darum gehts
- Tragisches Unglück in Lissabon: Standseilbahn entgleist, viele Opfer
- Experte erklärt mögliche Ursachen: Seilriss oder Bruch des Verbindungsstücks
- Mindestens 17 Tote und 23 Verletzte bei Unfall der historischen Bahn
Carlos Moedas, der Bürgermeister von Lissabon, spricht von einem «tragischen Tag». Die portugiesische Regierung erklärte den Donnerstag zum nationalen Trauertag. Das Land gedenkt der Opfer, die am Mittwoch starben, als die beliebte Standseilbahn «Elevador da Glória» entgleiste. Mit voller Wucht krachte die historische Bahn, ein Magnet für Touristen, gegen eine Hauswand. Mindestens 17 Menschen kamen ums Leben, 21 wurden verletzt. Die Zahl der Opfer könnte noch steigen.
Wie konnte es zu diesem Unglück kommen? Welches System nutzt die historische Bahn, das am Mittwoch offenbar versagte? Und gibt es ein Notfallsicherungssystem? Blick hat mit dem Seilbahnexperten Reto Canale (70) gesprochen.
Reto Canale (70), dipl. Ing. ETH, war nach dem Studium an der ETH in der Forschung tätig, arbeitete in der Industrie und als Direktor der kantonalen Sicherheitsaufsicht, wo er am Seilbahngesetz mitwirkte. Heute bringt er dieses Fachwissen als unabhängiger Berater ein.
Reto Canale (70), dipl. Ing. ETH, war nach dem Studium an der ETH in der Forschung tätig, arbeitete in der Industrie und als Direktor der kantonalen Sicherheitsaufsicht, wo er am Seilbahngesetz mitwirkte. Heute bringt er dieses Fachwissen als unabhängiger Berater ein.
Blick: Herr Canale, nach dem Unglück in Lissabon stellt sich sofort die Frage: Wie konnte das passieren? Erste Vermutungen deuten auf ein gerissenes Zugseil hin. Gibt es kein Sicherungsseil?
Reto Canale: Ich kenne das System des «Elevador da Glória» nicht im Detail. Grundsätzlich gilt: Bei diesen Standseilbahnen sind die beiden Fahrzeuge über ein einziges Seil verbunden, welches in der Bergstation über eine Seilscheibe geführt wird. Das Prinzip ist einfach: Während ein Fahrzeug herunterfährt, fährt das andere hinauf. Der talwärts fahrende Wagen hilft somit, den bergwärts fahrenden hochzuziehen. Die kritischste Stelle eines Zugseils befindet sich jeweils bei der Befestigung am Fahrzeug. Ein Zugseilriss an dieser Stelle ist somit eine der wahrscheinlichsten Unfallursache. Es wäre unüblich und mir nicht bekannt, dass auf der betroffenen Anlage noch ein zweites «Sicherungsseil» vorhanden ist.
Die «Elevador da Glória» wurde 1884 eröffnet. Entspricht das System überhaupt modernen Standards?
Die Seilbahn dürfte noch mit dem ursprünglichen System arbeiten. Allein der Umstand, dass das Zugseil unter der Strasse geführt wird, heisst noch nicht, dass dies den heutigen Standards nicht entspricht. Auch der berühmte Cable Car in San Francisco arbeitet nach diesem Prinzip. Das Zugseil läuft auch dort in einem Schlitz unter der Strasse, ein Arm verbindet das Fahrzeug mit dem Seil. Wenn bei diesem System das Seil reisst oder der Verbindungsarm zum Zugseil bricht – zwei zentrale Sicherheitsbauteile –, hat dies fatale Folgen: Auf steileren Fahrbahnen könnten auch Radbremsen das Fahrzeug nicht abbremsen. Die korrekte Instandhaltung hat bei diesem System entsprechend eine zusätzliche, sehr grosse Wichtigkeit.
Medien berichten, dass möglicherweise auch ein Notbremssystem versagt hat. Ist das denkbar?
Ein Bremsversagen bei intaktem Zugseil kann ich mir nicht vorstellen: Da hätte es ja das zweite Fahrzeug bergwärts ziehen müssen, was offensichtlich nicht der Fall war. Bei einem Versagen der Verbindung zwischen Fahrzeug und Zugseil gibt es dann jedoch auf den glatten Schienen bei grösseren Steigungen – hier 18 Prozent – ohne Zahnstange oder Schienenbremse kein Bremssystem mehr. In der Schweiz haben auch ältere Standseilbahnen, teilweise aus dem 19. Jahrhundert, Bremssysteme, die bei einem Zugseilriss das Fahrzeug mit einer Schienenbremse oder über eine Zahnstange sicher abbremsen. Diese «alten» Seilbahnen erfüllen damit vollständig die heutigen Sicherheitsanforderungen, indem sie sowohl bei einem Seilriss als auch bei einem Versagen der Verbindung zwischen Fahrzeug und Seil über ein periodisch geprüftes Bremssystem verfügen.
Was könnte Ihrer Meinung nach das Unglück verursacht haben?
Zwei Szenarien sind denkbar. Erstens: Das Zugseil könnte tatsächlich gerissen sein, am wahrscheinlichsten bei der Endbefestigungen am Fahrzeug, wo die einzelnen Drähte des Seils einer stärkeren Ermüdung ausgesetzt sind. Diese Endbefestigungen müssen daher regelmässig speziell überprüft und erneuert werden.
Und die zweite Möglichkeit?
Ein Versagen des Verbindungsarms zwischen Fahrzeug und Seil. Auch dieses Teil ist – insbesondere beim vorliegenden Bahnsystem – speziell sicherheitsrelevant. Wie die Seilbefestigung ist die Instandhaltung dieses Bauteils von grosser Bedeutung, da hier keine zweite Sicherheit, z. B. in Form einer Notbremse vorhanden ist.