Darum gehts
Fehlstart für Friedrich Merz (69): Am Dienstag ist er erst im zweiten Wahlgang zum neuen deutschen Kanzler gewählt worden. In der ersten Runde haben sogar Leute aus den eigenen Reihen ihre Stimme für Merz verweigert. Eine solche Pleite gab es für einen Kanzler noch nie.
Nun folgte die nächste grosse Herausforderung: Die Regierungsparteien verfügen im Bundestag über eine knappe Mehrheit von nur 52 Prozent. Tim Guldimann (74), Politikwissenschaftler und von 2010 bis 2015 Botschafter der Schweiz in Deutschland, erklärt den Fehlstart und sagt, worauf es jetzt ankommt.
Herr Guldimann, haben Sie diesen Fehlstart erwartet?
Tim Guldimann: Nein. Aber ich würde das nicht überbewerten. Die Abfuhr im ersten Wahlgang ist nicht mehr als ein Denkzettel, der vermutlich an beide gerichtet war – an Friedrich Merz und seinen Koalitionspartner von der SPD, Lars Klingbeil.
Es haben sogar Abgeordnete aus den eigenen Reihen ihre Stimme verweigert. Wer war das und warum?
Die Abstimmung war geheim, man weiss es nicht. Ich gehe aber davon aus, dass es sowohl in der Union als auch bei der SPD Abweichler gegeben hat, die sich dann im zweiten Wahlgang nur Stunden später gefügt haben.
Warum sollten Angehörige der Union und SPD gegen ihren gemeinsamen Kanzler stimmen?
Das ist auf Merz’ Blinken nach rechts zur AfD zurückzuführen. Es war einfach peinlich, dass er kurz vor den Wahlen im Bundestag zwei Vorstösse zur Migration lanciert hatte, für die er die Unterstützung der AfD einkalkulieren musste. Er hat damit Wortbruch begangen. Auch im persönlichen Umgang hat er andere vor den Kopf gestossen.
Und was haben Politiker der Koalitionsparteien an Vizekanzler Klingbeil auszusetzen?
Es gibt auch gegen ihn Ressentiments, vom linken Flügel der SPD und den Jusos, aber auch dagegen, wie er sich machtbewusst als neuer Chef durchgesetzt und seine Partei-Mitvorsitzende Saskia Esken ausgebootet hat. Er hat aber Merz die gleiche Zahl an Ministerposten wie jene der CDU abringen können und ein neues junges SPD-Regierungsteam mit einer Frauenmehrheit vorgestellt, ohne, von Boris Pistorius abgesehen, bisherige SPD-Minister zu übernehmen.
Wie stark bremst dieser Fehlstart die neue Regierung?
Die Frage ist nicht dieser erste Wahlgang, sondern, wie schnell die Regierung Resultate liefert. Es geht einerseits um die Versprechen zur Infrastruktur und andererseits um den Umgang mit Flüchtlingen. In diesem Bereich hat aber schon die Regierung Scholz eine Trendwende eingeleitet.
Wie wird sich die knappe Mehrheit auf die Arbeit von Merz und seiner Regierung auswirken?
Es bedeutet zum Beispiel, dass alle Minister für wichtige Abstimmungen nicht im Ausland, sondern im Bundestag anwesend sein müssen. Zudem sehe ich eine Schwierigkeit darin, dass vieles im Koalitionsvertrag nicht klar definiert ist, was noch zu Diskussionen führen wird.
Putin dürfte sich ob dem Fehlstart die Hände reiben…
Es gibt andere Staaten, da wird über Monate palavert, bis endlich eine Regierung gebildet wird. Was Sie als Fehlstart bezeichnen, wurde ja schon am Nachmittag korrigiert.
Welchen Einfluss hat der anfangs gezeigte Vertrauensentzug auf Merz’ Stellung auf europäischer Ebene?
Ein Denkzettel ist kein Vertrauensentzug. Merz wird sich jetzt darum bemühen, innerhalb der EU die Rolle Deutschlands als Führungsmacht zu bekräftigen. Da sehe ich bei Merz gewisse Chancen.
Wie muss Merz mit der vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften AfD umgehen? Zusammenarbeiten oder ausschliessen?
Der Verfassungsschutz hat die AfD als «gesichert rechtsextrem» eingestuft, ohne dabei die Beweisgrundlage öffentlich zu machen. Das wird noch Diskussionen provozieren, die AfD hat bereits dagegen geklagt. Trotzdem bin ich klar der Meinung, demokratische Parteien können nicht mit einer Partei zusammenarbeiten, die sich zum Ziel setzt, den Rechtsstaat auszuhebeln.
Nimmt man damit nicht in Kauf, dass das Frustpotenzial und so die Partei weiter anwächst?
Das ist die Gefahr, ja. Aber alle Bemühungen, die AfD einzugrenzen, sind bis jetzt gescheitert. Für das einzig Wirksame halte ich eine Politik, die die Probleme tatsächlich löst. Bei der Migration tut sich bereits etwas, bei der Infrastruktur steht der neuen Regierung jetzt das Geld zur Verfügung, das der Ampel gefehlt hat. Der Staat muss aber auch besser kommunizieren und überzeugen, dass die Bürger merken, dass er für sie da ist.
Die Ampelregierung ist zerbrochen. Wird die neue Regierung die nächsten vier Jahre überstehen?
Die Ampel hatte die FDP an Bord, die ständig den eigenen Tod fürchtete und dafür nur um die eigene Profilierung bemüht war. Eine Absprache zu zweit ist immer einfacher als zu dritt. Aus diesem Grund bin ich für diese Regierung optimistischer.