Darum gehts
Wolodimir Selenski (47) spricht plötzlich über Wahlen und Referenden. Nicht nach einem Waffenstillstand. Nicht nach einem Sieg. Sondern mitten im Krieg, während Raketen einschlagen und Friedensgespräche hinter verschlossenen Türen laufen.
Was auf den ersten Blick widersprüchlich wirkt, ist in Wahrheit ein politisches Manöver unter massivem Zeitdruck. Denn der ukrainische Präsident kämpft längst nicht mehr nur gegen Russland – sondern auch um Unterstützung und Glaubwürdigkeit im Westen. Wir erklären, warum Selenskis gerade jetzt die Wahl-Wende wagt.
Der Druck aus Washington wächst
Der Hintergrund: In Washington wächst die Ungeduld. US-Präsident Donald Trump (79) stellt offen infrage, ob Selenski noch demokratisch legitimiert ist. Seine reguläre Amtszeit wäre bereits 2024 zu Ende gegangen, doch das ukrainische Kriegsrecht verbietet Wahlen. Genau dieses Argument nutzt Moskau seit Monaten propagandistisch. Dass Trump es nun aufgreift, ist für Kiew brandgefährlich. Denn ohne Hilfe aus den USA kann die Ukraine den Krieg kaum weiterführen.
Parallel dazu laufen intensive Gespräche über einen möglichen Friedensrahmen. Im Zentrum steht der Donbass. Russland fordert den Abzug ukrainischer Truppen aus Gebieten, die es selbst militärisch nicht vollständig kontrolliert. Die USA signalisieren Offenheit für Sonderzonen, entmilitarisierte Gebiete oder eingefrorene Frontlinien. Für Selenski sind das hochriskante Szenarien. Territoriale Zugeständnisse könnten innenpolitisch explosiv sein – und ihn dauerhaft beschädigen.
Wahlen als politisches Druckmittel
Genau hier setzt Selenski an. Er erklärt sich überraschend bereit, Wahlen auch im Krieg abzuhalten – allerdings nur unter klaren Bedingungen: Waffenruhe, Sicherheit und westliche Garantien. Gleichzeitig bringt er auch ein Referendum über Gebietsfragen ins Spiel. Beides ist rechtlich derzeit kaum möglich. Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer leben im Ausland oder in besetzten Gebieten, Teile der Infrastruktur sind zerstört, tägliche Angriffe machen einen geregelten Wahlablauf nahezu unmöglich. Selenski weiss um diese Schwierigkeiten. Und nutzt sie bewusst, um seine Anliegen in den Fokus zu richten.
Mit der Wahlrhetorik kontert er den Vorwurf des «Diktators». Er dreht die Argumentation um: Nicht er blockiert die Demokratie, sondern der Krieg. Und nicht Kiew verhindert Wahlen, sondern Russland, das jede Waffenruhe verweigert. Wer von Selenski demokratische Prozesse fordert, muss zuerst Sicherheit liefern. Den Druck verschiebt er damit weg von Kiew – hin zu Moskau und zurück nach Washington.
Referendum als Schutzschild
Noch stärker wirkt der Vorstoss beim Referendum. Indem Selenski sagt, über territoriale Fragen könne nur das Volk entscheiden, baut er auch hier geschickt einen Blitzableiter ein: Sollte es zu schmerzhaften Kompromissen kommen, wären diese demokratisch legitimiert. Lehnt das Volk ab, hätte Selenski ein klares Mandat gegen russischen und westlichen Druck. In beiden Fällen schützt er sich vor dem Vorwurf, das Land hinter verschlossenen Türen zu verkaufen.
Vor allem aussenpolitisch setzt Selenski damit alles auf eine Karte. Die Signale aus den USA sind eindeutig: Ohne Bewegung in Richtung Frieden droht die Unterstützung zu bröckeln. Für Selenski könnte die aktuelle Phase die letzte Gelegenheit sein, sich als verhandlungsbereiter, demokratisch legitimierter Partner zu präsentieren – bevor andere über die Zukunft der Ukraine entscheiden.
Innenpolitisches Risiko, aussenpolitische Wette
Innenpolitisch ist dieses Spiel aber ebenfalls riskant. Korruptionsaffären und wachsende Kriegsmüdigkeit haben Spuren hinterlassen, auch wenn Selenski laut Reuters weiterhin der populärste Politiker der Ukraine ist. Ein Referendum könnte die Gesellschaft einen, aber auch spalten. Doch Alternativen sind rar. Potenzielle Rivalen, vor allem aus dem Militär, halten sich bewusst zurück.
Rechtlich bleibt all das fragil. Die Wahlen sind zwar nicht per se durch das Kriegsrecht verboten, aber wohl durch einige Gesetze. Eine Änderung der Gesetze ist zwar – im Gegensatz zur Verfassung – möglich, aber kompliziert. Selenskis Vorstoss ist deshalb kaum ein Fahrplan, sondern eher ein politisches Signal.
An Trump: Legitimation lässt sich nicht erzwingen.
An Russland: Wir sind bereit zu Verhandlungen, aber bei uns entscheidet das Volk.
Und an die eigene Bevölkerung: Über Land und Frieden entscheidet nicht ein Präsident allein.