Töne für die Ewigkeit
Der Manager der Kirchtürme

Wenn in der Schweiz die Glocken klingen, hatte Jari Putignano die Finger im Spiel. Seine Giesserei hat bald das Monopol auf Wartungen.
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Jari Putignano kam vom Weltall zu den Glocken nach Aarau. Er ist verantwortlich, dass das Unternehmen noch lange das älteste produzierende der Schweiz bleibt.
Foto: Thomas Meier

Darum gehts

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Tina Fischer
Handelszeitung

Zehn Jahre lang beschäftigte sich Jari Putignano mit dem Weltall. Er berechnete Flugbahnen, optimierte Raketenantriebe und baute Teile für Satelliten. Es ging um Millimeter, Millisekunden und Milliarden. Bei Ruag Space, heute Beyond Gravity, gehörten die innovativsten Unternehmen zu Putignanos Kunden. Dann kam der Anruf aus Aarau. Ob er die über 650 Jahre alte Glockengiesserei Rüetschi übernehmen wolle. Die letzte der Schweiz. Die älteste produzierende Firma des Landes.

Putignano überlegte nicht lange und sagte zu. Nun steht er voller Begeisterung mitten in der Werkstatt. Hinter ihm steht ein Gestell mit frisch gegossenen Glocken in allen Grössen. Der neu gegründete Verein Glockenmuseum Basel lässt die Glocken nicht etwa auf einem Kirchturm, sondern auf einem fahrbaren Untersatz montieren.

Dieses «mobile Glockenspiel» besucht bald Schweizer Schulen: Die Kinder und Jugendlichen, so die Idee des Vereins, sollen selber darauf spielen können. Und auf diesem Weg die Historie der Glocke, ihre Klänge und ihren gesellschaftlichen Wert kennenlernen.

Das mobile Glockenspiel wechselt bald zwischen den Schulhäusern und soll den Kindern die Glocke als Instrument näherbringen.
Foto: Thomas Meier

Denn eine Glocke ist kein simples Stück Metall. Sie ist ein Musikinstrument mit vielen Teiltönen – so komplex wie eine Geige, nur viel schwerer. «Eine Glocke hat mehrere Töne», erklärt Putignano. «Wir definieren den Hauptton, es schwingen aber immer Nebentöne mit.» Man muss es sich so vorstellen: Eine Glocke klingt, wie wenn man auf dem Klavier mehrere Tasten gleichzeitig drückt. Sie überlagern sich. Aus dieser Überlagerung kristallisiert sich für das Ohr ein spezifischer Ton heraus – der Schlagton der Glocke. Oder im Volksmund: der Glockenton.

Die Komplexität einer Glocke

Während im Weltraum Satelliten nach wenigen Jahren verglühen und ständig neue Produkte entstehen, ist die Glocke gebaut für die Ewigkeit. «Wir stimmen die Glocke am Anfang. Dann kann, aber muss man sie nicht nachstimmen», sagt Putignano. Einmal gegossen, klingt sie für tausend Jahre. Oder mindestens für 657, wie die älteste von Rüetschi gegossene Glocke beweist. Die Barbara-Glocke produzierte Rüetschi in ihrem Gründungsjahr 1367, noch heute läutet sie in der Freiburger Kathedrale.

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Die Glocke ist das analoge Gegenstück zur digitalen Welt. Vier Parameter machen die Glocke aus: Durchmesser, Höhe, Wandstärke – die sogenannte Rippe – und der Klöppel. Letzterer ist der Schlagstock in der Mitte der Glocke. Seine Position und Machart beeinflussen mit, wie eine Glocke klingt. Er ist der Teil der Glocke, der am stärksten verändert werden kann.

Der Glockenmacher der Schweiz: Der studierte Maschinenbauingenieur Jari Putignano arbeitete zuerst zehn Jahre in der Weltraumindustrie.
Foto: Thomas Meier

Beim Glockenkörper hingegen hat die Giesserei nur eine Chance: Der Klang ist bereits festgelegt, bevor die rund tausend Grad heisse Metallmischung in die Form fliesst. Kühlt die Glocke aus, zeigt sich erst, ob alles richtig geplant wurde. Passt der Klang nicht, kann nur noch minimal an der Innenwand geschliffen werden. Oder die Glocke wandert zurück in den Schmelzofen.

Artikel aus der «Handelszeitung»

Dieser Artikel wurde erstmals im Angebot von handelszeitung.ch veröffentlicht. Weitere spannende Artikel findest du unter www.handelszeitung.ch.

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Eine Glocke klingt gut, die Königsdisziplin der Glockenwelt ist aber das Carillon, das Glockenspiel. Laut der World Carillon Federation besteht es aus mindestens 23 Glocken. Anders als beim Kirchenturm, wo eine Glocke per Seil – oder per Motor – geläutet wird, funktioniert ein Carillon dank einer speziellen Klaviatur. Holzhebel für die Hände und Pedale für die Füsse lassen das Carillon ansteuern – fast wie bei einer Orgel. Nur schlägt man hier mit der ganzen Hand oder gar mit der Faust auf die Tasten.

Das bekannteste Carillon der Schweiz steht am Vierwaldstättersee in Sisikon UR. Das Glockenspiel «Tellsplatte» umfasst 37 Glocken. Das grösste Carillon der Schweiz steht mit 49 Glocken in Saint-Maurice VS, das zugänglichste findet sich beim Juwelier Kurz an der Bahnhofstrasse in Zürich.

Gesellschaftliche Akzeptanz des Glockenläutens

Doch nicht alle erfreuen sich am Glockenklang. Immer öfter beschweren sich Anwohner über das stündliche, ja viertelstündliche Läuten. Was Generationen als selbstverständlichen Soundtrack des Alltags empfanden, stellt für viele heute eine Lärmbelästigung dar. Dazu sinkt die Anzahl Kirchenmitglieder dramatisch: Die Reformierten verloren 2024 über 30'000 Mitglieder, die Katholiken 37'000. Dabei sind Kirchen, Glocken und ihre Mitglieder eng verbunden – und so auch Rüetschis Kundenstamm.

Seit dem 14. Jahrhundert am Standort in Aarau: Rüetschi ist das älteste produzierende Unternehmen der Schweiz – und hält noch immer am Standort in Aarau fest.
Foto: Thomas Meier

Ein Problem für Rüetschi? Keine neue Situation, laut Putignano: «Wir giessen schon seit langem nur wenige Glocken pro Jahr.» Zwar ist eine Glocke kostspielig: Laut Putignano kostet eine schlichte Glocke ohne Verzierung mit dem Gewicht von einer Tonne rund 70'000 Franken – bei zusätzlichen Details steigt der Preis schnell an. Doch damit finanziert das Unternehmen, das mittlerweile mehrere Firmen unter einem Dach vereint, keine vierzig Angestellten. «Die Glockengiesserei steht für rund 2 Prozent unseres jährlichen Umsatzes», erklärt Putignano.

Die restlichen 98 Prozent erwirtschaftet Rüetschi mit bis zu dreihundert Projekten im Jahr, bei denen es um die Wartung von Glockenanlagen und die Digitalisierung alter Kirchtürme geht. Genau dafür akquiriert Rüetschi auf 2026 die Kirchturmtechnik der Firma Muribaer aus Büron LU. Damit übernimmt Rüetschi alle Arbeiten am Kirchturm, von der Glocke über den Schmuck bis zur Turmuhr.

Filigranes Giessen: Egal ob Blei, Metall oder Gold – Rüetschi giesst jedes Produkt bis ins filigranste Detail.
Foto: Thomas Meier

Kanonenkugeln, Bleitüren und Basilisken

Doch die Türme sind nur ein Geschäftsfeld. Schon lange hat sich Rüetschi modernisiert. Neben der Werkstatt, in der Blei bei 1000 Grad Celsius schmilzt, stehen diverse orangefarbene 3D-Drucker. Sie sind die Vorstufen für Projekte abseits der Glocke: Rüetschi giesst auch Skulpturen aus Blei, Situationspläne aus Bronze oder Einzelanfertigungen für Firmen. Leuchtturmprojekte sind die Basilisken auf den Basler Trinkbrunnen, eine 10-Tonnen-Bleitür für das Paul-Scherrer-Institut und ein 186 Kilogramm schwerer Würfel aus 24-karätigem Gold.

Diese Wandlungsfähigkeit ist die DNA der Firma. Im Mittelalter goss sie Kanonenkugeln statt Glocken, in Kriegszeiten Geschützrohre statt Geläut. «Die Rüetschi hat sich immer wieder neu erfunden», sagt Putignano und schaut auf die Uhr. Gleich muss er los zum nächsten Übernahmetermin. Worum es sich handelt, verrät er noch nicht. Klar ist: Der Mann vom Weltall hat seine Mission gefunden und will, dass es die Firma auch im nächsten Jahrhundert noch gibt.

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