Darum gehts
Als Pietro C. mit 19 Jahren ins Militär einrücken sollte, wurde er zunächst zurückgestellt – zu leicht, befanden die Ärzte damals. Mit seinen 57 Kilo sei er nicht Soldat genug. Heute, 54 Jahre später, bringt er rund 90 Kilo mehr auf die Waage.
Mit einem Body-Mass-Index von über 40 sitzt er im Regionalspital von Mendrisio TI einer Endokrinologin gegenüber. Vieles hat er schon ausprobiert: Mal verzichtete er auf Kohlenhydrate, mal auf Eiweiss, mal ass er nur die Hälfte. Auch Intervallfasten änderte auf Dauer nichts. Jetzt will er es mit der Abnehmspritze versuchen, von der alle sprechen.
Wann die Gewichtszunahme begann, will die Ärztin wissen. Als er mit dem Rauchen aufgehört habe. Dann versucht sie, sein Essverhalten über die Jahre zu ergründen: ob es emotionale oder stressbedingte Auslöser für zu viel Essen gibt, ob er zu schnell und unregelmässig isst. Wie es mit der Achtsamkeit beim Essen aussehe, wie er seine Heisshungerattacken beschreiben würde.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Pietro C., der wie alle anderen Betroffenen in diesem Text anonym bleiben möchte, wirkt ratlos: Er habe nie Heisshunger. Er isst auch keine Donuts zum Frühstück und knabbert kein Popcorn vor dem Fernseher. Eigentlich esse er «gesund und abwechslungsreich, nur eben zu gern – und zu viel». Kurz: Er hat ein schlechtes Sättigungsgefühl.
Schalter im Gehirn umlegen
Hier setzt die Abnehmspritze an, denn laut aktueller Forschung liegt der Schlüssel zum Abnehmen im Gehirn: Die Spritze setzt direkt am Belohnungssystem an und soll helfen, den Schalter im Gehirn umzulegen, indem sie körpereigene Hormone simuliert, die den Appetit zügeln, die Verdauung verlangsamen und ein länger anhaltendes Sättigungsgefühl erzeugen. Doch das funktioniert nicht ohne Nebenwirkungen: Magen-Darm-Beschwerden wie Völlegefühl, Erbrechen, Durchfall oder Verstopfung.
Aber so weit ist Pietro C. noch lange nicht. Bis zum nächsten Termin in drei Wochen gibt die Ärztin dem 73-Jährigen erst einmal eine Hausaufgabe mit: ein Fototagebuch mit allen Mahlzeiten führen. Und wie es jetzt mit dem Rezept für die Fettwegspritze aussehe, will der Patient nach der einstündigen Konsultation doch noch wissen. Ja, die könne sie bei seinem deutlich zu hohen BMI verschreiben, obwohl er keinen Diabetes habe.
Aber vorher müsse sie noch Krankengeschichte, ärztliche Untersuchungen und Blutwerte erfassen, einen Antrag bei der Krankenkasse stellen, ein Ernährungs-, Bewegungs- und Muskelaufbauprogramm entwickeln. So einfach kommt man nicht an die Spritze, die manche eher mit Lifestyle als mit Medizin verbinden.
Psychische und körperliche Beschwerden
Für den Lifestyle von Adele K. war die Spritze alles andere als positiv: «Nie wieder», sagt die 32-Jährige, die sich das Präparat ein halbes Jahr Woche für Woche in die Bauchfalte gespritzt hat. Zunächst sei alles gut gegangen, doch mit der Zeit habe sie erst psychische, dann körperliche Beschwerden bekommen.
«Ich war sehr schnell satt, aber mein Kopf wollte weiteressen. Dann musste ich mich fast nach jeder Mahlzeit übergeben. Und als ich die Dosis wie vorgesehen erhöhte, kam Durchfall dazu.» Zwar sank ihr Gewicht in dieser Zeit um 7 auf 109 Kilo. «Ich bekam auch Komplimente, dass ich gut aussehe, aber mit solchen Nebenwirkungen wollte ich nicht leben.» Im Oktober vergangenen Jahres setzte sie die Spritze abrupt ab. Der Jo-Jo-Effekt blieb nicht aus.
Aufstossen, Blähungen, Übelkeit
«Eine psychotherapeutische Begleitung ist unerlässlich», meint Leonie G. aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Spritze. «Denn es ist schon krass, wie sich die Verdauung mit der Spritze verlangsamt.» Der Körper signalisiere, «der Bauch ist voll, aber der Kopf reagiert emotional». Und wenn man der Lust auf ein Stück Kuchen nachgebe, müsse man sich übergeben.
Seit Oktober spritzt sich Leonie G. das Medikament und hatte zu Beginn mit Durchfall oder Verstopfung zu kämpfen. Heute leidet sie noch unter Aufstossen, Blähungen und leichter Übelkeit jeweils am zweiten Tag nach der wöchentlichen Injektion. 15 Kilo hat sie bisher abgenommen, jetzt wiegt sie noch 92. Die Höchstdosis der Injektion hat sie noch nicht erreicht, und die Pfunde purzeln weiter.
«Die Spritze allein ist aber kein Wundermittel, sondern muss als Ergänzung zu ausgewogener Ernährung und Sport gesehen werden», betont sie. Leonie G. hat ihr Essverhalten umgestellt und dokumentiert es mit einer App. «Aber ich will das nicht mein Leben lang machen.» Obwohl es offiziell heisst, man müsse die Spritzen bis ans Lebensende nehmen, fasst die 36-Jährige ein Ende der Therapie ins Auge – in etwa einem Jahr.
100 Kilo – und nichts geht mehr
Auch Roberto M. will nicht sein Leben lang auf die Spritze angewiesen sein. Seine Geschichte ähnelt der von Pietro C.: Der gebürtige Italiener lebt im Tessin, war als junger Mann hager, genoss das Leben, heiratete – Ursache für sein Übergewicht: «Meine Frau kocht einfach zu gut. Irgendwann konnte ich vor lauter Gewicht nicht mehr richtig gehen, die Knie schmerzten bei jedem Schritt, beim Treppensteigen atmete ich schwer», so der 51-Jährige. Er wog 130 Kilo.
Mit der Spritze nahm er in nur sechs Monaten 30 Kilo ab. Doch seit September zeigt die Waage unverändert 100 Kilo an. Roberto M. hat sein «Plateau» erreicht. Ab diesem Punkt scheitert die Wirkung der Spritze an den Widerstandskräften des Körpers. Denn bei einem so starken Gewichtsverlust setzt dieser alles daran, den alten Zustand wiederherzustellen. Das Hungergefühl wird nach oben, der Energieverbrauch nach unten reguliert. Das zuvor so wirksame Medikament kann diese Reaktion des Körpers gerade noch ausgleichen.
Doch Roberto M. will weitere 15 Kilo abnehmen. Dabei hat sich sein Leben, was das Essen angeht, bereits grundlegend geändert: «Ich esse nur noch sehr wenig: Salate, viele Proteine, keine Teigwaren, und ich trinke keinen Alkohol. Viele denken, man muss nur das Zeug spritzen, kann sitzen bleiben, Pizza essen, Wein trinken, und schon purzeln die Pfunde. Das stimmt nicht.»
Das vermeintliche Wundermittel unterdrücke zwar das Hungergefühl, nicht aber die Lust am Essen. «Es ist ein ständiger, täglicher Kampf gegen das, was im Kopf passiert.» Wenn er mal aus purer Genusslust über die Stränge schlage, bekomme er ein flaues Gefühl im Magen und spüre Übelkeit. Wirklich schlimme Nebenwirkungen habe er aber noch nie gehabt. Das lässt Pietro C. hoffen.