Darum gehts
Melbourne, Paris und Wimbledon: Dreimal stand Novak Djokovic heuer im Halbfinal, dreimal fehlten ihm bloss zwei Siege zum 25. Grand-Slam-Triumph. Der mittlerweile 38-jährige Serbe marschierte im Vergleich zu früheren Jahren relativ geräuschlos durch die Major-Bewerbe. Ohne Kontroversen. Weil er die Kräfte für einen vielleicht letzten Coup zu bündeln versucht? Und wie wird nun sein Auftritt an den US Open in New York? Ein Gespräch mit einem, der sich lange mit dem Phänomen Djokovic auseinandergesetzt hat: Mark Hodgkinson, Autor des Buches «Auf der Suche nach Novak».
Blick: Mark Hodgkinson, wie lange haben Sie gebraucht, um den Menschen Novak Djokovic zu begreifen?
Mark Hodgkinson: Nun, ich bin seit 2005 auf der Tennistour unterwegs. 2011 interviewte ich ihn das erste Mal. 2023 begann ich schliesslich mit dem Buchprojekt. Ich wollte mit Leuten sprechen, die ihm nahestehen. Mit so vielen wie möglich. Auf einer Recherche-Reise nach Belgrad versuchte ich zu verstehen, was Djokovic als kleiner Bub 1999 im Jugoslawienkrieg durchmachte. Ich habe auch Zeit in dem Bunker verbracht, in dem er mit seiner Familie während der Nato-Bombardierung Schutz suchte.
Wie war das für Sie?
Ein seltsames Gefühl, berührend. Ich denke, die Leute sprechen nicht genug darüber, welche Situationen Djokovic in seiner Kindheit überstehen musste. Das waren wirklich schwierige Momente. Wie weit er es am Ende gebracht hat, ist beeindruckend. Ich wollte deshalb nach Belgrad gehen und dort mit den Menschen über ihn sprechen. Dabei ist mir etwas besonders aufgefallen.
Was?
Die wenigsten jungen Leute im Quartier, in dem er aufwuchs, sprechen über seine sportlichen Resultate. Es geht immer nur um seine Grosszügigkeit. Djokovic schenkte ihnen nützliche Dinge wie Möbel oder auch Bücher für die örtliche Schule. Er versuchte, ihnen zu helfen.
Zurück zur eigentlichen Frage: Haben Sie den Menschen Novak Djokovic nun verstanden?
Das Buch heisst «Auf der Suche nach Novak». Und irgendwie lernen wir unsere Mitmenschen doch ständig neu kennen. Oder entdecken immer wieder etwas Neues. Das geht mir auch mit Djokovic so. Ich habe einfach versucht, ein möglichst akkurates Bild von ihm wiederzugeben. Und ich bin der Meinung, dass er nicht die Bewunderung erhält, die er eigentlich verdient.
Er ist intelligent, eloquent, sprachbegabt, hat Witz. Wurde Djokovic unrecht getan, indem man ihn als Partycrasher des Duos Federer (44)/Rafael Nadal (39) abstempelte?
Ja, am Anfang war die Reaktion der Fans tatsächlich so: «Hey, wir haben eigentlich schon eine gute Rivalität zwischen den anderen beiden!» Ich denke, wären alle gleich alt, wäre es vielleicht anders gewesen. Man tat Djokovic ein Stück weit unrecht. Er ist ein lustiger Typ, warmherzig. Ich denke, in den letzten beiden Jahren konnte er in Sachen Ruf etwas aufholen.
In der Abwesenheit von Federer und (zu grossen Teilen) von Nadal.
Genau. Er schraubte sein Grand-Slam-Konto auf 24 Titel hoch, wurde Olympiasieger. Und die Fans sehen auch, dass er mit der neuen Generation von Spielern gut umgeht. Er sagt nicht: «Das ist mein Territorium.» Er ist offen und hilfsbereit.
Er selbst gab zu, dass ihn die Fan-Ablehnung verletzt hatte und dass er weder durch seine Herkunft noch durch seinen Charakter richtig dazugehörte.
Ja, dabei ist er aus meiner Sicht die faszinierendste Figur der «Big 3». Er ist unglaublich authentisch.
Politische Statements, Corona-Impfung, emotionale Ausbrüche auf dem Platz: Warum eckt Djokovic so viel mehr an als Federer und Nadal?
Djokovic sagt, was er denkt. Dabei hat er nicht die Absicht, Schlagzeilen zu machen oder andere vor den Kopf zu stossen. Er ist einfach so. Aber wenn er etwas fühlt, dann drückt er sich dementsprechend aus. Ich denke, Federer und Nadal waren hierbei diplomatischer.
Glauben Sie persönlich noch an einen weiteren Grand-Slam-Titel von Djokovic?
Andere scheinen da nicht mehr so sicher zu sein. Aber ich denke, für Djokovic ist es möglich, dass er den 25. Grand-Slam-Titel holt. Ich finde, niemand sollte den Grössten aller Zeiten abschreiben. Vielleicht passiert es schon jetzt in diesem Sommer in New York – auch wenn seine besten Chancen wohl noch kommen. An den Australian Open und in Wimbledon nächstes Jahr.
Sie beschreiben ihn im Buch als sehr reflektierten Menschen. Trauen Sie ihm zu, von heute auf morgen zurückzutreten?
Eher nicht. Er wird wohl so lange weitermachen, wie er denkt, dass er einen Grand Slam gewinnen kann. Ich glaube, die Leute haben erwartet, dass er nach seinem langersehnten Olympiasieg letzten Sommer eine Ansage folgen lassen könnte. Das wäre der Hollywood-Moment schlechthin gewesen. Doch eigentlich tickt er gar nicht so. Ich schätze ihn nicht als Person ein, die aus dem Affekt solche Entscheide trifft.
Sie haben bereits weitere Bücher über Ivan Lendl (65) und Andy Murray (38) sowie Biografien mit Grafik-Sammlungen über Federer und Serena Williams (43) veröffentlicht. Nun folgt eine Biografie über Carlos Alcaraz (22/«Being Carlos Alcaraz – der Mann hinter dem Lächeln»). Kein Superstar scheint vor Ihnen sicher.
(Lacht.) Nun, was soll ich sagen? Ich liebe diesen Sport einfach. Und ich mag die Psychologie dahinter.
Viele trauen Alcaraz zu, in die Sphären der «Big 3» vorzustossen. Zu Recht?
Er sagte selbst, dass er der Beste der Geschichte sein will. Und er tätigte diese Aussage, während er viele Turniere gewann. Aus meiner Sicht hat er gezeigt, dass er mit diesem Druck ganz gut umgehen kann. Er scheint keinen grossen Einfluss auf ihn zu haben. Er ist ein fröhlicher, kompetitiver Junge.
Alcaraz und der Weltranglistenerste Jannik Sinner (24) bilden jetzt die «New 2». Ihre Rivalität elektrisiert die ganze Tenniswelt. Was macht sie so speziell?
Es sind die gegensätzlichen Stile und Persönlichkeiten der beiden. Alcaraz ist der Showman, der es liebt, seine Schläge zu zelebrieren und das Publikum zu unterhalten, während Sinner eine viel kontrolliertere und bedächtigere Präsenz auf dem Platz hat. Er spielt mit erstaunlicher Kraft, Präzision und Beständigkeit. Sie haben bereits – mit dem Roland-Garros-Final und anderen Partien – gezeigt, dass sie zusammen Tennis von bemerkenswerter Qualität und Dramatik produzieren können.
Ihre Prognose für die US Open? Hält die schon sieben Grand Slams andauernde Siegesserie von Alcaraz und Sinner an?
Das ist jetzt keine gewagte oder mutige Vorhersage, aber ja: Ich glaube, dass einer der beiden die US Open gewinnen wird. Obwohl es nicht unmöglich ist, dass Djokovic einige Leute überraschen und seinen 25. Titel holen könnte.