Darum gehts
Eigentlich sollte Roland Collombin (74) nach der Operation und drei Wochen Spitalaufenthalt in Winterthur gleich in die Rehaklinik von Crans-Montana umziehen. Doch «La Colombe» liess sich noch nie etwas befehlen: «Meine Reha ist meine Familie! Im Spital konnte ich kaum schlafen, zu Hause schlafe ich gut. Was ich brauche, sind die feinen Plättli aus der Küche meiner Frau Sarah», lacht er. «Heute konnte ich endlich wieder gut essen, es gab Fisch», freut er sich. Wegen eines Infekts, den er im Spital aufgelesen habe, hatte er Magenkomplikationen. «Ich bin durch die Hölle gegangen. Aber jetzt ist es wieder gut.»
Auch deshalb, weil sein «Clan» nun schaut, dass es ihm an nichts fehlt: Ehefrau Sarah, mit der er seit 40 Jahren verheiratet ist, Tochter Emmanuelle (38), die in Sitten ein Pilatesstudio führt, und Sohn Pierre (33), Möbelschreiner. Zwar hat der frühere Superathlet wegen des Leberkrebses ganze 14 Kilo abgenommen, «vor allem Muskelmasse, aber ich hatte ja etwas Reserve», lacht er. Mit dem «Picoler», also dem Alkohol, ist es allerdings vorbei, kein Schluck Fendant mehr! Gäste empfängt er immer noch im Carnotzet im Keller, im Wallis der wichtigste Raum des Wohnhauses. Dort kredenzt er Weisswein, für sich selber gibts aber nur Hahnenwasser. «Ist mal alles vorbei, lebe ich wieder normal, so wie vorher», schaut er in die Zukunft.
Dieser Artikel wurde erstmals in der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.
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Wenn es dem Abfahrtssieger von Kitzbühel 1973 langweilig wird, fährt er vom Wohnort Versegères runter nach Martigny-Bourg, in sein kleines Restaurant «La Streif» – gelegen in der Gasse, die man Rue de la Soif (Strasse des Durstes) nennt, obwohl sie eigentlich an der Rue du Bourg liegt. Dort schabt er für die Kundschaft schnell ein paar Raclettes. Anschliessend gibts zwei, drei Abschläge auf dem Golfplatz, dann mit dem neuen blauen Porsche – «kein Elektroauto, nein, ein richtiges Auto» – wieder rauf zum Haus seiner Eltern und Grosseltern. Hier ist er zur Welt gekommen, und hier hat er seither immer gewohnt. Die Kurven nimmt Collombin so forsch wie ein Rallyefahrer. Denn: Rallye fahren war mal sein Traum, aber der Arzt sei dagegen gewesen wegen des Rückens.
Tumore auf der Leber
Letztes Jahr erhielt die Ski-Ikone die Diagnose Krebs. Auch die Leber war befallen. Tochter Emmanuelle hatte den befreundeten Besitzer der Genolier-Klinikgruppe, Antoine Hubert, nach dem besten Chirurgen für Leberoperationen gefragt. So wurde ihm Pierre-Alain Clavien, ein Walliser, empfohlen, der in Winterthur operiert. Der Termin stand in Kürze, die Operation ist vorbei, die Prognosen sind positiv.
Natürlich haben die Freunde im Wallis gesagt: «‹So ist es, wenn du zu viel Alkohol trinkst, dann geht eben die Leber kaputt.› Aber mein Arzt hat die Leber genau angeschaut. Wenn schon eine Zirrhose entstanden ist, operieren sie dich nicht mehr. Meine Leber hat keine Zirrhose, sie ist zu 87 Prozent funktionell. Man musste nur ein paar kleine Tumore auf der Leber entfernen.» Für die Chemotherapie wurde ihm eine kleine Pumpe in den Bauch gelegt, wo gezielt eine Ladung Medikament direkt auf die Leber geht. «Ohne jegliche Nebenwirkungen. Die Leber wächst auch im hohen Alter nach. Schon zwei Wochen nach der Operation war die Leber regeneriert», sagt Emmanuelle.
In seiner persönlichen Rehaklinik, dem Carnotzet, feiert die Familie Raclette-Partys mit Freunden oder ganzen Carladungen von Touristen, die das Phänomen Collombin besuchen. Die Wände sind vollgestellt mit Siegertrophäen, Kannen und Medaillen, auch die 2,23 Meter langen Rossignol-Abfahrtsski fehlen nicht. Kneissl hatte ihm und Bernhard Russi, seinem damaligen Kontrahenten und Freund, ein Angebot zum Umsteigen gemacht, offerierte 400'000 Franken statt wie bisher 200'000. «Ich bin meiner Marke treu geblieben, Russi ist umgestiegen.» Typisch Collombin. Sohn Pierre sagt: «Er ist ein wilder Kerl, aber immer sich selbst treu geblieben.»
«Ich will mein eigener Patron bleiben»
Warum hat er nie lukrative Werbeverträge ergattert, wie seine Konkurrenten? «Ich wollte nicht.» Oder mangelte es ihm an Talent, mit den Firmen zu verhandeln? «Beides! Keine Lust und kein Talent», lacht er, «mich hat die Agentur McCormack schon kontaktiert, als ich nach meinem Unfall 1975 in Basel bei Dr. Guido Zäch in der Paraplegiker-Klinik lag. Ich sagte denen, ich will nichts wissen von dem Zeug, ich brauche keine Patrons, ich will mein eigener Patron bleiben.» Selbstständig führt er seither den Getränkevertrieb seines Vaters Maurice weiter. Nicht, dass er mit Skirennen kein Geld verdient hätte. «500'000 im Jahr hats schon gebracht.» Das reichte zum Kauf eines kleinen Restaurants im Dorf, das er «La Colombe» nannte und inzwischen weitergegeben hat.
Er schaut zu seiner Tochter Emmanuelle und sagt: «Jetzt habe ich trotzdem eine Patronne.» Er ist dankbar, dass sie sich um alle Gesundheitssachen kümmert. Ehefrau Sarah wirft ein: «Er hat jetzt sogar zwei Patronnes!»
«Liebenswürdiger Lausbub»
Die Skikarriere war nur kurz: erst Abfahrtsweltmeister bei den Junioren, dann zehn Abfahrtssiege, in Sapporo Olympia-Silber und 1974 Sieger bei allen vier Klassikern Wengen, Garmisch, Avoriaz, Kitzbühel, die Kristallkugel 1973 und 1974. Dann kamen die zwei Stürze bei Trainingsfahrten in Val d’Isère, zweimal am gleichen Ort, die Stelle heisst seither «La bosse à Collombin». Die Karriere war beendet.
«Daran erinnere ich mich nicht mehr, habe alles vergessen», sagt Collombin, was natürlich nicht stimmt. Er weiss genau, was dort passiert ist. Er ist stolz auf die zwei Jahre Erfolg; elf Podestplätze in zwei Jahren, das ist ausserordentlich. Was war sein Geheimnis? «Ich sage immer, man muss halt intelligent sein, ein gutes Feeling haben. Ich musste nicht eine Stunde auf der Piste herumstehen, um zu wissen, wo ich runterfahren muss. Das war mein Talent.» Und wer waren seine ärgsten Konkurrenten? «Ich habe nie Konkurrenz gesehen, zog einfach mein Ding durch.» Russi? «Er war mein Vorbild, er ist älter, ich habe ihn um Rat gefragt, und plötzlich war ich vor ihm.» Was sagt er zu Odermatt, dem neuen Supertalent? «Magisch, er ist wie ich ein Bonvivant, macht gerne Feste und hat auch dieses Feeling. Ich glaube, nicht einmal er selbst kann erklären, warum er so gut ist.»
Ohne Unfall wäre Roland Collombin wohl als bester Schweizer Abfahrer aller Zeiten in die Geschichte eingegangen. Da sind sich die Experten einig. «Er hätte 1976 an Olympia sicher Gold geholt, er ist ein echter Pechvogel, aber er war stets ein Draufgänger und einfach ein liebenswürdiger Lausbub», sagt alt Bundesrat Dölf Ogi (83), der die Schweizer als Verantwortlicher beim Skiverband in Sapporo zum Erfolg geführt hat. Warum er so instinktsicher gefahren ist, immer richtig auf den Ski stand, dabei aber nie so viel trainiert hat wie seine Kollegen, bleibt auch für Ogi ein Rätsel.
«Ich wollte nicht Befehle befolgen»
«Ich habe ein bisschen geschummelt mit dem Training», erklärt La Colombe, «ich trainierte hart, aber nur zu Hause, nie auf Befehl in der Gruppe, da lief ich hinten nach!» Schon in der Rekrutenschule machte er alles, um rausgeworfen zu werden, «da erhielt ich nach zwei Monaten einen Brief vom Skiverband, der mir mit dem Rausschmiss drohte, nicht aus der Armee, aus dem Skiverband! Das wollte ich nicht.»
Als seine Krankheit bekannt wurde, sagte er in Interviews, er habe Angst vor dem Sterben, weil er so gerne lebe. Er präzisiert heute: «Ich habe nicht Angst, aber ich möchte nicht jetzt sterben, denn es gibt noch so viel zu erleben. Ich habe einen Brief gekriegt, in dem mir gesagt wurde, dass Jesus auf mich wartet. Danke schön!» Die Kollegen haben ihn angerufen, Jean-Claude Killy, Léo Lacroix, Russi und die vielen Walliser Freunde. Geht er eine Kerze anzünden in der Kirche? «Noch nicht! Ich bin nicht so gläubig …» Wie würde er sein Leben zusammenfassen? «Ich habe maximal vom Leben profitiert und hoffe, dass es noch eine Zeit lang so weitergeht.»
Golfspielen, um Leute zu treffen
Als Nächstes steht an: mitmachen am Toni Sailer Golf Memorial in Österreich, wo er mit seinem Sohn hinfährt, dem besseren Golfspieler. «Ich tauge nicht viel auf dem Golfplatz», gesteht Roland, «ich gehe nur, um Leute zu treffen.» Dabei macht er sein Collombin-Gesicht: strahlende Augen, herrliches Lächeln. Aber jetzt ist er müde, geht rein in die Stube, setzt sich für ein Nickerchen aufs Sofa vor den laufenden Fernseher – und schläft gleich ein.