Zweimal fast gestorben – jetzt erstmals Vater
Die dramatische Lebensgeschichte von Schwinger Vollenweider

Schwinger Jeremy Vollenweider jagte seiner Mutter gleich mehrfach Todesangst ein. Der Schaffhauser blickt auf seine dunkelsten Stunden zurück und zeigt mit Freundin Saskia zusammen die sieben alte Tochter Malia.
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Foto: BENJAMIN SOLAND
Die dramatische Lebensgeschichte von Schwinger Vollenweider

Darum gehts

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Nicola AbtReporter Sport
Publiziert: 12:43 Uhr
|
Aktualisiert: 12:45 Uhr

Malia ist 49 Zentimeter klein. Und doch schon das Grösste im Leben von Schwinger Jeremy Vollenweider (27). Denn eigentlich hätte er gar nicht Vater werden sollen. «Die Ärzte meinten, dass es sehr schwierig werden würde, Kinder zu bekommen», erinnert sich der Ostschweizer. Der Krebs drohte den grössten Wunsch von ihm und seiner Partnerin Saskia zu zerstören.

Ob Vollenweider einmal ein Kind haben würde, war lange Zeit unklar.
Foto: BENJAMIN SOLAND

Neun Jahre sind seither vergangen. Vollenweider sitzt im Elternhaus in Marthalen ZH. Neben ihm seine Mutter Petra. Die sieben Wochen alte Malia schläft in den Armen von Saskia. Das tut sie auch noch, als ihr Vater erzählt, wie er zweimal beinahe gestorben wäre – innerhalb weniger Monate. 

Todesangst in der Ringerhalle

Das erste Mal ums Überleben kämpft Vollenweider auf einer Ringermatte. Im April 2016 kommt es in Oberriet SG zum folgenschweren Duell. «Ich weiss nur noch, dass ich im Rückstand war und von der Matte flog. Danach: Blackout. Als ich kurz zu mir kam, waren drei oder vier Matten um mich herum. Dann wurde alles wieder schwarz.»

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Neben dem Schwingen und Nationalturnen ist das Ringen seine dritte grosse Leidenschaft.

Vollenweider erleidet einen Herzstillstand. Über eine Minute lang schlägt sein Herz nicht mehr. Während die Sanitäter um sein Leben kämpfen, leidet seine Mutter Petra in der Halle mit. «Ich sah, wie er blau anlief. In diesem Moment befürchtete ich, dass mein Kind stirbt. Und ich konnte nichts tun. Es war schrecklich», sagt sie. 

Ärger über zerschnittenes Trikot

Nachdem die Sanitäter Vollenweider wiederbelebt haben, wird er ins Spital nach St. Gallen gebracht. «Plötzlich standen rund zwanzig Ärzte und Pfleger um mich herum. Ich hatte keine Ahnung, was los war», erinnert er sich.

Kurz darauf trifft auch seine Mutter im Spital ein. Unvergessen bleibt für sie, was ihr Sohn beim ersten Wiedersehen sagte: «Er beschwerte sich darüber, dass die Sanitäter sein Ringertrikot durchgeschnitten haben.» Beide müssen lachen. «Das hat mich tatsächlich genervt», ergänzt Vollenweider. 

«Ein Eidgenössisches vor Heimkulisse ist einmalig»
2:05
Vollenweider will ESAF-Kranz:«Ein Eidgenössisches vor Heimkulisse ist einmalig»

Neue Regel nach schlimmem Zwischenfall

Bis heute pflegt der Ringer eine besondere Beziehung zu seiner Lebensretterin. Immer wenn er in der Halle in Oberriet kämpft, kommt die Sanitäterin auf ihn zu. «Wir wechseln ein paar Worte und sind dankbar, dass damals alles so gut geklappt hat.»

Für Vollenweider war der Vorfall bald einmal abgeschlossen. «Ich habe die Gabe, so etwas sehr schnell zu verarbeiten.» Deutlich mehr Mühe hatte seine Mutter. Seitdem meidet sie die Ringerkämpfe ihres Sohnes. «Aus Angst, dass wieder etwas passieren könnte.» 

Als Schachspieler wäre er früher zum Arzt

Nach seiner Spitalentlassung gab es für Vollenweider nur noch ein Ziel. Er wollte vier Monate später am ESAF in Estavayer teilnehmen. Was ihm auch tatsächlich gelang. «Das war ein unglaubliches Erlebnis.» Noch während er diese Eindrücke verarbeitete, folgte der nächste Nackenschlag.

Im Herbst 2016 erhielt Vollenweider die Diagnose Hodenkrebs. «Der Urologe hat mich mit Ultraschall untersucht. Der eine Hoden war auf dem Bild komplett schwarz. Da wusste ich: Das ist nicht gut.»

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Nach einer Krebsdiagnose musste der Schaffhauser eine Chemotherapie über sich ergehen lassen. Deshalb sagten ihm die Ärzte, dass die Chancen nicht sehr gross seien.

Weil er erst sehr spät einen Arzt aufsuchte, bildeten sich bereits Ableger in seinem ganzen Körper. «Wenn ich Schach spielen würde, wäre ich sicher früher gegangen. Als Schwinger und Ringer bekommt man halt auch zwischen den Beinen mal etwas ab. Ich gehe ja nicht wegen jedem Bluterguss zum Arzt. Ich dachte, die Geschwulst würde wieder zurückgehen.»

Kein Arzt traute sich komplexen Eingriff zu

Da der Krebs weit fortgeschritten war, wurde Vollenweider sogleich operiert. Viel später hätte er nicht kommen dürfen, sagten ihm die Ärzte. Nach dem Eingriff musste er sich aufgrund der Ableger einer Chemotherapie unterziehen. Was seine Chancen, Vater zu werden, drastisch minimierte. «Das war für mich der mit Abstand schwierigste Moment. Ich liebe Kinder. Dann vom Arzt zu hören, dass es schwierig werden könnte, traf mich sehr.» 

Noch vor der Operation liess sich Vollenweider Spermien einfrieren. Während die Operation nach Plan verlief, schlug die Chemo nicht wie gewünscht an. Um auch die letzten Krebszellen in der Lunge und den Lymphknoten zu entfernen, wurde eine komplizierte, fast siebenstündige Operation nötig. 

Zunächst traute sich kein Arzt, diesen Eingriff durchzuführen. Da er in der Nähe des Rückenmarks erfolgte, drohte Vollenweider im Fall eines Fehlers eine Querschnittlähmung. Letztlich zeigte sich ein Deutscher doch noch dazu bereit. 

Kahlgeschoren in den Skiferien

Vollenweider wurde der ganze Bauch geöffnet. Die lange Narbe wird ihn sein Leben lang daran erinnern. Mittlerweile gilt er offiziell als geheilt. Im Rückblick ist ihm der Haarverlust während der Reha besonders stark eingefahren. «Als wir in den Skiferien waren, hielt ich plötzlich einen Büschel Haare in den Fingern.»

Daraufhin rasierte ihm seine Mutter mit dem Bartschneider ihres Mannes den Kopf. «Es war im ersten Moment sehr schwierig, dich ohne Haare im Spiegel zu sehen.» Von seinem neuen Aussehen liess er sich aber nicht aufhalten.

Er ist das Stehaufmännchen des Schwingsports.
Foto: BENJAMIN SOLAND

Vollenweider ging sogar in den Schwingkeller und absolvierte eine 90-minütige Trainingseinheit. «Ich selbst fühlte mich nicht krank. Es waren fremde Leute, die mich krank machten. Sie sahen mich so an, als ob etwas nicht stimmen würde.» Auch in dieser Zeit litt seine Mutter mit ihm. «Ich hätte ihm den Krebs am liebsten abgenommen.»

Spezieller Platz für eine spezielle Treichel

Freundin Saskia fühlte sich teilweise hilflos. «Ich konnte nicht mehr als für ihn da sein», sagt sie. «Beeindruckt hat mich seine positive Art. Er fiel nicht in ein Loch.» Den Grund dafür sieht Vollenweider nebst dem tollen Umfeld in den Zielen, die er sich stets gesetzt hat. 

So peilte der Zürcher die Teilnahme am Schaffhauser Kantonalen 2017 an. Obwohl ihm der Arzt keine Freigabe gab, nahm Vollenweider teil und erkämpfte sich sensationell den Kranz. Die Treichel, die er damals im Gabentempel auswählte, steht noch heute neben seinem Sofa. «Die bedeutet mir ganz besonders viel.» 

Nächstes grosses Ziel steht an

Die Treichel beweist ihm, was für ein unglaubliches Kämpferherz Vollenweider in sich trägt. Wofür es sich zu kämpfen lohnte, sieht er seit sieben Wochen ebenfalls täglich. «Malia hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Sie ist unser kleines Wunder. Etwas Schöneres hätte mir nicht passieren können.»

Vor knapp sieben Wochen kam sein kleines Wunder auf die Welt. Für seine Tochter Malia hat Vollenweider einen Birnbaum gepflanzt.
Foto: BENJAMIN SOLAND

Seine Tochter wird ihn auch vor Ort unterstützen, wenn Vollenweider sein nächstes grosses Ziel erreichen will. In drei Wochen strebt er am ESAF den ersten eidgenössischen Kranz an. Zuvor tritt er diesen Sonntag am Schaffhauser Kantonalen an.

Gewinnen will er noch immer – aber um jeden Preis wie früher? «Nein, meine Geschichte hat mich gelehrt, auf den Körper zu hören.» Der Ehrgeiz, das Beste aus sich herauszuholen, ist jedoch geblieben. Aufgeben ist für ihn nach wie vor keine Option.

Diese Glücksgefühle sollen ihn im Sägemehl beflügeln. In drei Wochen strebt Vollenweider (oben) am ESAF seinen ersten eidgenössischen Kranz an.
Foto: keystone-sda.ch
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