Thierry und Maurice Reuteler (beide 24) haben eine Vorahnung. Während des Fanmarschs vor dem Spiel gegen Island am Sonntag in Bern prophezeien die beiden jüngeren Zwillingsbrüder im SRF-Interview ein Tor ihrer Schwester Géraldine (26). Der Wunsch ist ihr Befehl. «Ich habe mir fest vorgenommen, ein Tor zu schiessen, nachdem ich im letzten Spiel diese Riesenchance vergeben habe», sagt Reuteler, nachdem sie von der Uefa erneut zur Spielerin des Spiels gewählt worden ist. «Es war eine Riesenerleichterung.»
Reutelers EM-Tor ist der vorläufige Höhepunkt ihrer persönlich grandiosen Saison. In ihrem siebten Jahr bei Eintracht Frankfurt spielt sie gross auf, schiesst Tore am Laufmeter und empfiehlt sich damit auch für höhere Aufgaben. Und auch an der EM stellt sie ihre Topform unter Beweis, ist bislang die beste Nati-Spielerin an diesem Turnier und überzeugt nicht nur in der Offensive, sondern rackert auch nach hinten unermüdlich.
«Schon als Geri sehr jung war und in die Nati kam, war für mich klar, dass sie eine sehr grosse Karriere hinlegen wird», sagt Lia Wälti (32). Reuteler sei eine sehr komplette Spielerin, die ein riesiges Spielverständnis habe. «Sie arbeitet viel nach hinten und ist gleichzeitig sehr torgefährlich. Eine solche Spielerin sieht man nicht oft im Frauenfussball», so der Nati-Captain.
Aus dem Schatten von Wälti und Co. getreten
Während sich Reuteler ihren Höhenflug nicht erklären kann, sagt ihr Bruder Thierry zu Blick: «Ich glaube, es liegt daran, dass sie die Sicherheit und den Spass am Fussball wieder zu 100 Prozent gefunden hat.» Im März 2021 reisst sich Reuteler das Kreuzband im Knie. Und obwohl die Frauen-EM wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr verschoben wird, beginnt für sie ein Wettlauf gegen die Zeit. Zwar schafft Reuteler den Sprung ins EM-Kader und schiesst im letzten Gruppenspiel gegen Holland (1:4) den zwischenzeitlichen Ausgleich, doch ganz die Alte ist sie noch nicht.
In der Nati steht Reuteler lange im Schatten der Arrivierten um Wälti, Ana-Maria Cnrogorcevic (34) und Ramona Bachmann (34). Sie ist die Einzige des erfolgreichen U17-Jahrgangs, der 2015 an der EM auf Island den Final erreicht. Mit Ausnahme von ihr und mit Abstrichen Alisha Lehmann (26) und Amira Arfaoui (25) schafft niemand in der A-Nati den Durchbruch. «Deswegen waren in diesem Jahrgang immer alle Augen auf sie gerichtet», sagt Thierry Reuteler.
Inzwischen hat sich Reuteler vom grossen Talent zur Leaderin entwickelt, gegen Finnland bestreitet sie ihr 80. Länderspiel, die EM ist bereits ihr viertes grosses Turnier. «Geri ist sehr selbstkritisch, deshalb hatte sie lange auch Mühe, Komplimente und Lob anzunehmen und zu realisieren, dass sie zu den Besten gehört», sagt ihr Bruder Thierry. Inzwischen könne sie viel besser damit umgehen und die Lobeshymnen auch schätzen. «Und auf dem Platz ist sie noch selbstbewusster und egoistischer geworden, was es manchmal braucht.»
Tattoo-Queen der Nati
Als Mensch ist Géraldine Reuteler sich treu geblieben. Bodenständig, unkompliziert, ohne Starallüren – ein Familienmensch. Wie wichtig Reuteler ihre Familie mit ihren vier Brüdern ist, zeigt sich auch bei ihren Tattoos. Zu jedem Familienmitglied hat sie sich eins stechen lassen. Mit ihrem Bruder Thierry verbindet sie ein Partnertattoo auf ihrem Ober- und seinem Unterarm, in dem das Geburtsdatum des anderen jeweils verewigt ist.
Mittlerweile hat Reuteler 22 Tattoos auf ihrem Körper, womit sie die Tattoo-Queen der Nati ist. «Meine Mutter meint, ich sei zugekleistert, aber ich finde, dem ist gar nicht so», sagt Reuteler mit einem Lachen. Ihr erstes macht sie mit 16, weshalb sie die Einwilligung ihrer Mutter braucht. «Ihr war es einfach wichtig, dass es etwas ist, das für mich Bedeutung hat.» Inzwischen sind 21 weitere dazugekommen. «Wenn ich eine Idee habe, dann überlege ich es mir eine Weile und mache es dann.»
Und welches ist ihr nächstes Sujet? «Vielleicht ein EM-Tattoo», sagt Reuteler. «Eines von der WM habe ich schon.» Geht ihre Erfolgsstory an dieser EM auch gegen Finnland und in einem allfälligen Viertelfinal so weiter, steht einem solchen wohl definitiv nichts im Weg.