Trotz steigendem Wohlstand – wie kann das sein?
Unicef schlägt Alarm wegen Kinderarmut – auch in der Schweiz

Über 400 Millionen Kinder leben laut dem Unicef-Jahresbericht in Armut. Fehlende Mittel, Kriege und Klimawandel gefährden den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen. Fortschritte bei der Bekämpfung stagnieren, und die Zahlen in der Schweiz sind sogar gestiegen.
Publiziert: 06:31 Uhr
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Aktualisiert: vor 29 Minuten
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Armut betrifft Hunderte Millionen von Kindern weltweit.
Foto: imago/Thomas Eisenhuth

Darum gehts

  • Kinderarmut in der Schweiz nimmt zu und betrifft viele Lebensbereiche
  • Armut beeinflusst Bildungschancen, Gesundheit und soziale Teilhabe von Kindern
  • 417 Millionen Kinder weltweit sind in mindestens zwei lebenswichtigen Bereichen benachteiligt
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Angela RosserJournalistin News

Bildung, Gesundheit, Wohnsituation, Ernährung, sanitäre Einrichtungen und Wasser – in diesen sechs Kategorien wird die Benachteiligung von Kindern gemessen. Kein Zugang zu sauberem Trinkwasser, mangelnde Gesundheitsvorsorge und fehlende Bildung zum Beispiel drängen Millionen Kinder weltweit in die Armut. Gemäss dem neuen Unicef-Jahresbericht sind 417 Millionen Kinder in mindestens zwei der lebenswichtigen Bereiche stark benachteiligt. 

Das bedeutet, dass mehr als jedes fünfte Kind in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen in Armut lebt. In der Schweiz wären das 340'000 Kinder. Was ungefähr der gesamten Anzahl an Einwohnerinnen und Einwohner des Kantons Wallis entspräche. Kinderarmut in der Schweiz nimmt stetig zu. Auch in der Schweiz sind viele Kinder von Armut betroffen. Die Lage hierzulande hat sich sogar verschlechtert. Blick hat darüber mit Désirée Zaugg, Child Rights Advocacy Unicef Schweiz und Liechtenstein, gesprochen. 

Blick: Was heisst Kinderarmut?
Désirée Zaugg: Werfen wir einen Blick auf die Schweiz, fehlt es der Mehrheit der Kinder und Jugendlichen nicht an überlebenswichtigen Dingen. Armut führt aber zu einer Beschneidung ihres Rechtes auf einen angemessenen Lebensstandard und behindert sie weitreichend darin, ihre Rechte wahrzunehmen und ihr volles Potenzial zu entfalten. Von materieller Armut betroffene Kinder und Jugendliche verfügen nicht über dieselben Möglichkeiten und Chancen wie andere Kinder und Jugendliche in der Schweiz. Diese Erkenntnis zieht sich durch alle Lebensbereiche und Rechte hindurch. Sie haben geringere Bildungschancen, weniger Möglichkeiten zu Partizipation und Teilhabe, häufig ein schlechteres Wohlbefinden, eine schlechtere physische und psychische Gesundheit und ein geringeres Sicherheitsempfinden.

Wodurch wird Kinderarmut ausgelöst?
Die Gründe für Kinder- und Familienarmut in der Schweiz sind divers. Die steigenden Lebenshaltungskosten (steigende Mietpreise, Krankenkassenprämien etc.) spüren wir alle. Für Familien, die geringverdienend sind, fällt diese Belastung jedoch überproportional ins Gewicht. Hinzu kommt, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in der Schweiz noch immer eine Herausforderung darstellt und der Staat im internationalen Vergleich wenig in die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) investiert – übrigens eine wirkungsvolle Präventionsmassnahme gegen Armut, die die Chancengerechtigkeit stark fördern kann. Eine weitere Problematik ist, wenn Familien mit Kindern nicht auf die Sozialleistungen, die ihnen zustehen, zugreifen. Die Leistungen der Sozialhilfe können grundsätzlich die negativen Folgen von Armut für Kinder abmildern.

Wie beeinflusst eine Kindheit in Armut die Entwicklung von Kindern?
Diese Kinder haben weniger Unterstützungsmöglichkeiten im schulischen Bereich und damit geringere Chancen auf einen höheren Bildungsabschluss. Das wirkt sich später auch auf ihr Einkommen aus. Sie haben vielleicht keine geeignete Wohnung, um Kinder zu sich nach Hause einzuladen, können aus finanziellen Gründen an Ausflügen und Kindergeburtstagen nicht teilnehmen. Das hat unmittelbare Auswirkungen auf die Partizipation, die Zugehörigkeit und das Schliessen von Freundschaften.

Gibt es eine Einkommensgrenze, ab der von Kinderarmut gesprochen wird?
Ja. Die relative Armut/Armutsgefährdungsquote bezieht sich die Haushalte mit einem Einkommen unter 60 Prozent des Medians. Die absolute Armutsquote geht vom sozialen Existenzminimum aus und orientiert sich an den SKOS-Richtlinien. Die SKOS (Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe) hat definiert, wann ein Mensch in der Schweiz von Armut betroffen ist und wie hoch das Existenzminimum sein muss, um ein Minimum an Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Für einen Vier-Personen-Haushalt liegt der Betrag aktuell bei 2271 Franken.

Wie könnte das verhindert werden?
Es sollte an unterschiedlichen Orten angesetzt werden. Für Familien, die von relativer Armut betroffen sind oder mit ihrem Einkommen knapp darüber liegen (sogenannte «Working poors») sind familienfreundliche Strukturen und Unterstützungen jenseits der Sozialhilfeleistungen zentral. Es braucht nach wie vor eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, höhere Investitionen in FBBE und national harmonisierte und bessere Unterstützungsleistungen (z.B. Familienergänzungsleistungen, Prämienverbilligungen etc.). Bei armutsbetroffenen Familien, die ein Anrecht auf Sozialhilfe haben, wäre es wichtig, Hürden für den Nichtbezug abzubauen.

Wie kann es in einem so reichen Land überhaupt arme Kinder geben?
Der Wohlstand ist gestiegen – aber nur für einige wenige. Die Schere zwischen Arm und Reich wird grösser. Für viele Familien in der Schweiz wird es zunehmend schwieriger, über die Runden zu kommen. Krankenkassen und Mieten steigen beispielsweise für alle gleichermassen unabhängig vom Einkommen. Gerade Geringverdienende, die nicht gleich stark von der Wohlstandszunahme profitiert haben, sind nun über die Massen von den Preissteigerungen betroffen. Der Staat muss gute Rahmenbedingungen schaffen, damit Kinder und eine Familiengründung kein Armutsrisiko darstellen.

Wie merkt man, ob ein Kind von Armut betroffen ist?
Man kann es einem Kind nicht ansehen, ob es von Armut betroffen ist. Aber man sollte sich bewusst sein: Bei einer so hohen Armutsgefährdungsquote befindet sich die Thematik mitten in unserer Gesellschaft. Bei einer Klasse mit 20 Kindern hat ein Lehrer demnach vier armutgefährdete Kinder im Schulzimmer. Darauf muss man sensibilisiert sein, auch dafür, was es für diese Kinder im Alltag bedeutet.

Bist du in Armut aufgewachsen und würdest mit uns über deine Geschichte sprechen? Melde dich unter redaktion@blick.ch oder via Whatsapp unter der Nummer: 079 813 80 41. 

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