Darum gehts
- 17-Jähriger stirbt bei Verfolgungsjagd
- Gewalttätige Proteste brechen in Lausanne aus
- Experten betonen Abwägung zwischen Verfolgung und Sicherheit bei Polizeieinsätzen
Ein 17-Jähriger hat am Samstag in Lausanne bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei sein Leben verloren. Der Roller, auf dem er unterwegs war, war zuvor als gestohlen gemeldet worden. Am Sonntag brachen in diesem Zusammenhang gewalttätige Proteste aus. Polizei und Demonstranten lieferten sich bis in die Nacht Scharmützel, es wurde mit Feuerwerk geschossen, ein Bus wurde in Brand gesetzt. Auf der anderen Seite setzte die Polizei Gummischrot und Tränengas ein.
Hintergrund: Es ist der zweite tödliche Teenager-Unfall innerhalb zweier Monate im Zusammenhang mit Verfolgungsjagden im Waadtland. Bereits Anfang Juli war eine 14-Jährige mit einem Roller tödlich verunfallt. Sie wollte sich nach einem illegalen Rennen einer Kontrolle entziehen. Hat die Polizei falsch gehandelt, die Flüchtenden gar in den Tod gejagt? Zwei Experten ordnen ein.
Während in den USA Verfolgungsjagden auf Strassen quasi als «Live-Happening» über die News-Kanäle flimmern, gehören sie hierzulande zu einer Rarität. Dennoch starben in den letzten beiden Monaten zwei Jugendliche im Kanton Waadt nach Verfolgungsjagden mit der Polizei. Doch wie kommt es überhaupt dazu und welche Regeln gelten für die Strafverfolger?
Der Schutz der Bevölkerung hat Priorität
Auf Blick-Anfrage will Markus Melzl (73), ehemaliger Kriminalkommissar in Basel als erstes die Uhrzeit der Verfolgung wissen. Nicht ohne Grund, denn der Vorfall fand frühmorgens statt: «Stellen Sie sich vor, jemand flüchtet am Samstagmittag durch eine volle Innenstadt. Da sind Fussgänger, Kinderwagen, Leute, die überhaupt nicht entscheiden können, ob sie gefährdet werden oder nicht. In solchen Situationen bricht man ab – alles andere wäre viel zu gefährlich.» Die Entscheidung zu einer Verfolgung müsse sauber abgewägt werden.
Stephan Reinhardt (59) pflichtet bei. Er ist ehemaliger Kommandant der Kantonspolizei Aargau und ist heute als Anwalt mit eigener Kanzlei tätig. Er sagt: «Grundsätzlich gilt: Der Schutz Dritter, der Eigenschutz der Polizei und auch der Schutz der verfolgten Person haben oberste Priorität. Nur wenn es die Gefährdungslage zulässt, kommt eine Verfolgung infrage – bis das Risiko zu gross wird.» Fährt man beispielsweise zuerst über Land, und die Verfolgung verlegt sich dann in ein Wohngebiet, müsse häufig abgebrochen werden.
«Es kommt auf den Einzelfall an»
So etwas wie ein Drehbuch gebe es nicht. Unisono sagen beide: «Es kommt auf den Einzelfall an.» Während man bei leichten Übertretungen dem Verdächtigen nicht unbedingt mit aller Konsequenz nachfährt, gebe es auch Ausnahmen: «Ganz anders sieht es natürlich bei einem bewaffneten Banküberfall aus», sagt Reinhardt. «Dort ist die Schwelle für eine Verfolgung tiefer, da die Bedrohung erheblich ist und Waffen im Spiel sein könnten.»
Es werde immer eine Abwägung gemacht: «Die Entscheidung liegt zunächst bei den beiden Polizeifunktionären im Fahrzeug. Gleichzeitig muss aber die Einsatzleitung oder die Einsatzzentrale beigezogen werden, damit eine Drittmeinung einfliessen kann. Dabei geht es darum, nicht in einen ‹Jagdmodus› zu verfallen, sondern sachlich zu bleiben.»
Markus Melzl stellt aber auch klar: «Man kann nicht jeden flüchten lassen. Wer anhält, ist sonst der Dumme – und das kann es nicht sein.» Die Verantwortung liege schlussendlich beim Flüchtenden: «Dieser entscheidet, ob er anhält oder flüchtet. Die Polizei jagt niemanden ‹in den Tod›, wie oft behauptet wird. Wer sich Blaulicht und Horn widersetzt, trifft diese Entscheidung selbst.»