«Wenn man so zu kämpfen hat, sollte man etwas zurückbekommen»
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Fibromyalgie-Kranke frustriert:«Wenn man so zu kämpfen hat, sollte man etwas zurückbekommen»

Natalie Schmid (53) leidet unter Fibromyalgie – und unter dem System
«Ich bin zu krank zum Arbeiten – aber zu gesund für die IV»

Natalie Schmid (53) aus Derendingen SO kämpft gegen Fibromyalgie – und gegen die IV. Trotz massiver Schmerzen erkennt die Versicherung keine Arbeitsunfähigkeit an. Begründung: Schmid sei zu gepflegt, zu freundlich und ihr Leidensdruck zu gering. Experten widersprechen.
Publiziert: 00:08 Uhr
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Natalie Schmid (53) – hier mit Ehemann Dominik (55) – ist verzweifelt. Die IV erkennt ihr Leiden nicht an.
Foto: Sebastian Babic

Darum gehts

  • Natalie Schmid (53) leidet an Fibromyalgie – einer chronischen Schmerzerkrankung
  • Trotz massiver Beschwerden lehnt die IV Solothurn ihre Rente ab
  • Begründung: Schmid sei «zu gepflegt» und ihr Leidensdruck «nicht gross genug»
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Sebastian BabicReporter Blick

«Es fühlt sich an, als hätte ich die Grippe. Nur hundertmal schlimmer!», sagt Natalie Schmid (53) aus Derendingen SO. Seit Jahren kämpft sie mit Fibromyalgie – einer chronischen Schmerzkrankheit, die in Schüben zuschlägt und sie zeitweise lahmlegt. «Wenn ein Schub besonders schlimm ist, kann ich nicht einmal mehr meine Arme anheben», sagt Schmid unter Tränen. 

Trotz eindeutiger Diagnosen verweigert ihr die IV Solothurn seit Jahren eine Arbeitsunfähigkeit. Die Krankheit anerkennt sie zwar – doch der «Leidensdruck der Versicherten» sei «nicht gross genug», heisst es in einem fast 90-seitigen Gutachten von 2023.

Der Leidensweg beginnt 2018: Das Familienleben der Schmids liegt in Trümmern. Ehemann Dominik (55) erkrankt, kann nicht mehr Vollzeit arbeiten. Die Diagnose: Burnout. Um die fünfköpfige Familie zu retten, übernimmt Natalie Schmid bis zu vier Jobs gleichzeitig: Zeitung austragen um drei Uhr morgens, Coop-Schicht am Nachmittag, abends noch bei zwei Arbeitgebern putzen. «Ich wachte um 3 Uhr auf und ging um 24 Uhr ins Bett – fast ein Jahr lang», sagt Schmid.

20-Stunden-Tage – ein Jahr lang

Bald kapituliert ihr Körper: Nach einem Bandscheibenvorfall beginnen sich diffuse Schmerzen im ganzen Körper auszubreiten. Sogar schlafen und essen wird für Schmid zum Problem. Am Ende bricht auch die Psyche ein. Zum ersten Mal in 24 Jahren, wie sie sagt, meldet Schmid sich krank.

Die Diagnose zunächst auch bei ihr: Burnout. Doch das erklärt die massiven Schmerzen nicht. Erst Spezialisten finden heraus: Sie leidet unter dem Fibromyalgie-Syndrom (FMS). Vereinfacht gesagt, handelt es sich dabei um eine Schmerz- und Reizüberempfindlichkeit, wörtlich übersetzt bedeutet es in etwa «Muskelfaserschmerz». Eine unheilbare, lebenslange Erkrankung, die 1 bis 5 Prozent der Bevölkerung trifft – überwiegend Frauen. «Die Krankheit ist chronisch, man muss versuchen, mit ihr zu leben. Eine Heilung gibt es nicht», sagt Schmid.

Körpergewicht halbiert

Die Folgen der Krankheit sind nicht zu übersehen. Die energiegeladene, lebenslustige, etwas mollige Frau verwandelt sich zwischen 2021 und 2023 in einen Schatten ihrer selbst. Innerhalb zweier Jahre verliert sie fast die Hälfte ihres Körpergewichts. Heute wiegt sie statt 110 weniger als 60 Kilogramm.

Mehrere Fachärzte bestätigen die Diagnose. Schmid meldet sich bei der IV an, denn die finanziellen Probleme werden grösser. Doch die IV schickt sie zur «interdisziplinären Gesamtbeurteilung». Heisst: Die Diagnosen der Fachärzte werden kontrolliert durch Gutachter der IV. Das Resultat: kein Anspruch auf Rente oder andere Massnahmen.

Die Begründung wirkt zynisch: Schmid sei «zu gepflegt» erschienen, «freundlich» gewesen und bemüht, «positiv» zu wirken. Aus Sicht der IV-Gutachter offenbar Zeichen eines zu «geringen Leidensdrucks». «Ich habe keine Lust, zu lügen oder mich anders darzustellen, als ich bin!», sagt sie. «Ich bin zu krank zum Arbeiten – aber zu gesund für die IV!»

Eine stationäre psychiatrische Behandlung lehnte Schmid damals ab – nicht aus Trotz, sondern weil zu Hause drei Kinder auf sie warteten.

Schwer nachweisbare Krankheit

Fibromyalgie ist zwar breit anerkannt, aber weder mess- noch sichtbar. Die Diagnose erfolgt «klinisch», also beobachtungs- und gesprächsbasiert. Ein riesiges Problem für die Betroffenen, denn diese fehlende Nachweisbarkeit öffnet Spielraum für die IV.

Das weiss auch Jeannette Rechsteiner (49), Vorstandsmitglied der Schweizerischen Fibromyalgie-Vereinigung und zertifizierter Fibromyalgiecoach. Zu Blick sagt sie: «Meist ist der Rheumatologe nur für die Diagnose zuständig. Oftmals heisst danach ‹winke, winke›, und die Patienten werden sich selbst überlassen.»

Rechsteiner selbst lebt seit Jahren mit FMS. Das Problem, dass die IV die Krankheit nur selten anerkennt, kennt sie nur zu gut: «Es fehlt das Wissen.»

Fragebögen statt Untersuchung

Schmid sagt: «Ich wurde kaum begutachtet. Der überwiegende Teil meiner Untersuchungen bestand aus Fragebögen. Wie sollen diese Ärzte mich so überhaupt beurteilen können?»

Die IV-Stelle Solothurn verweist auf Blick-Anfrage auf das fast 90-seitige Gutachten von 2023. Man sehe keine Unregelmässigkeiten: «Von einem solchen Gutachten weicht die IV-Stelle nur ab, wenn konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit des Gutachtens sprechen.»

Auch bei der zweiten Anmeldung im Sommer 2025 habe man keinen Grund gesehen, die Entscheidung zu revidieren. Trotz des Gewichtsverlusts von fast 50 Kilo sehe man keine gesundheitliche Verschlechterung, die eine Neubeurteilung möglich mache: «Gegen eine Nichteintretensverfügung steht Versicherten der gerichtliche Weg offen.»

Doch genau das ist das Problem: «Einen Anwalt können wir uns nicht leisten», sagt Schmid verzweifelt. Was sie am meisten stört: «Bei meiner zweiten Anmeldung wurde nicht einmal ein Arzt zurate gezogen. Ein Sachbearbeiter entschied über mein Schicksal. Einfach so. Ohne meine Geschichte zu kennen, ohne medizinische Kenntnisse!»

Schmid erwartet nichts, wie sie sagt. Nur: «Ich hoffe, dass meine Geschichte anderen Mut macht – und zeigt, wie viele von uns durch die Maschen fallen.»

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