«Man fühlt sich wie ein welkes Salatblatt»
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Sie hat das Fatigue-Syndrom:«Man fühlt sich wie ein welkes Salatblatt»

Unsichtbares Leiden
«Ich fühle mich wie ein welkes Salatblatt»

Sandra Findeisen (58) lebt mit einer Krankheit, die kaum jemand sieht – und doch ihr ganzes Leben bestimmt. Die Bernbieterin kämpft täglich gegen extreme Erschöpfung und für mehr Anerkennung von Betroffenen. Jetzt macht ihr eine nationale Strategie Hoffnung.
Publiziert: 14:44 Uhr
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Aktualisiert: 14:56 Uhr
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Sandra Findeisen erzählt von ihrem Alltag mit ME/CFS. Mit viel Kraft setzt sie sich für mehr Sichtbarkeit der Krankheit ein.
Foto: Raphaël Dupain

Darum gehts

  • Sandra Findeisen leidet an ME/CFS, einer chronischen Erkrankung mit starker Erschöpfung
  • Trotz Einschränkungen findet sie Kraft in Kreativität und Selbstliebe
  • Ständerat nimmt Motion für nationale Strategie zu ME/CFS und Long Covid an
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Lea MartiRedaktorin

Als Sandra Findeisen (58) die Tür ihrer gemütlichen Wohnung im ländlichen Helgisried BE öffnet, lächelt sie offen. Doch als der Fotograf die Kamera zückt, bittet sie ihn, auf den Blitz zu verzichten. Ein solcher Reiz, so klein er auch scheinen mag, kann für sie zu einem Problem werden. Alltägliche Dinge, die für gesunde Menschen selbstverständlich sind, stellen für Sandra Findeisen eine grosse Herausforderung dar. Sie leidet an ME/CFS, kurz für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrom.

Betroffene solcher chronischen Krankheiten wie auch Long Covid sind in unserer Gesellschaft kaum sichtbar. Kein Wunder: Ihre Einschränkungen sind nicht auf den ersten Blick erkennbar, die chronische Erkrankung führt zu starker Erschöpfung. Die Symptome sind sehr unterschiedlich – von körperlicher Schwäche über Schlafstörungen bis hin zu Konzentrationsproblemen. Viele sind schlicht zu erschöpft, um am Alltag oder am Berufsleben teilzuhaben. Stattdessen kämpfen sie häufig jahrelang um Anerkennung ihrer Beschwerden. Die Bernbieterin führt uns in ihre kleine Wohlfühloase. Eine Treppe hinauf, oben wartet schon eine ihrer beiden Katzen. Hier hat sie in den schlimmen Phasen ihrer Krankheit viele Stunden verbracht. 

Wie eine ewige Grippe

Vorstellen könne man sich das wie eine Grippe, die nie endet: «Man ist extrem erschöpft, abgeschlagen und müde – und das über Wochen, Monate, sogar Jahre.» Der Körper reagiert auf jede Art von Anstrengung, sei es Duschen, Kochen oder einfach nur das alltägliche Leben. Und dies multifaktoriell: Immun–, Hormon– und Nervensystem sind betroffen, wie auch die Muskulatur. «Man fühlt sich wie ein welkes Salatblatt, das einfach herumliegt», beschreibt Findeisen. Sie erhielt ihre Diagnose vor einem Jahr, die Symptome traten aber schon viel früher auf. Ihre Krankheitsgeschichte begann mit einer Gürtelrose, worauf eine Zahnwurzelbehandlung eine schwere Infektion mit dem Pfeifferschen Drüsenfieber und dem Zytomegalievirus nach sich zog, einem weit verbreiteten Herpesvirus.

Seit zwei Jahren kann sie nicht mehr arbeiten. Vor der Diagnose strotzte die Bernbieterin vor Kraft: Sie zog ihre beiden Töchter allein gross und arbeitete bei einer Stiftung. Sie reiste gerne, liebte das Tanzen und Konzerte, war viel in der Natur unterwegs. Heute ist das alles nicht mehr möglich. Doch Sandra Findeisen hat einen Weg gefunden. «Tanzen tue ich in meiner Vorstellung immer noch. Das Gehirn kann nicht zwischen Realität und Fantasie unterscheiden. Ich stelle mir oft vor, wie ich früher mit meinem Bruder tanzte.» Mit Zeichnen und Schreiben von Poesie verarbeitet sie ihre Gefühle und schafft damit einen Ausdruck, der ihr Kraft gibt.

Ein Alltag am Limit

Verausgabt sie sich zu sehr, kommt es zum Crash. Es sei wie ein Auto, das nach einem Unfall nicht mehr fährt. Was mit Schwindel und Müdigkeit beginnt, steigert sich zu Migräne und Muskelschmerzen und zwingt sie schliesslich ins Bett. «Manchmal muss ich drinnen eine Sonnenbrille tragen, weil ich so empfindlich auf Licht reagiere.» Gelenkschmerzen, geschwollene Schleimhäute und Husten runden das Bild ab.

Als Betroffene fühle man sich oft komplett isoliert. Schon ein kleines Zeichen von Verständnis, eine Geste, könne einen Unterschied machen. Die Isolation sei gefährlich: «Diese Krankheit kann extrem auf die Psyche schlagen. Nicht nur der Körper leidet, das ist eine enorme Belastung.» Doch sie entscheidet sich jeden Tag neu, weiterzumachen, ihr Mantra: «Ich bin nicht meine Krankheit. Ich behalte meine Würde, ich bin wertvoll.»

Ständerat macht Hoffnung für Betroffene

Vor mehr als zwei Wochen hat der Ständerat die Motion «Nationale Strategie zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Menschen mit ME/CFS und Long Covid» angenommen. Betroffenenorganisationen begrüssen die Massnahmen, auch Findeisen ist erleichtert. «Der Entscheid macht mir Mut. Ich fühle mich beschwingt. Jetzt wünsche ich mir, dass rasch gehandelt wird», sagt sie mit ruhiger Stimme und präsentiert ihren Lösungsvorschlag. Eine Skizze mit einem Haus, das aufzeigt, was Betroffene wirklich brauchen: ein stabiles Fundament aus Fürsorge und Empathie, ergänzt durch finanzielle Mittel, medizinische Versorgung und soziale Sicherheit als tragende Wände. 

Motion für Betroffene

In der Schweiz leben schätzungsweise 20’000 bis 40’000 Menschen mit der chronischen Erschöpfungskrankheit ME/CFS, weltweit sind es rund 17 bis 24 Millionen. Der Ständerat hat eine Motion angenommen, die Betroffenen mehr Sichtbarkeit, Versorgung und Unterstützung bringen soll. Hier das Wichtigste über die beschlossene Motion:

  • Entwicklung einer nationalen Strategie für ME/CFS und Long Covid
  • Mehr Bewusstsein in Gesellschaft und Gesundheitssystem schaffen
  • Bessere Versorgung und Zugang zu spezialisierten Therapien
  • Hausbesuche für schwer Erkrankte ermöglichen
  • Off-Label-Medikamente vergüten
  • Sensibilisierungskampagnen starten
  • Forschung gezielt fördern

In der Schweiz leben schätzungsweise 20’000 bis 40’000 Menschen mit der chronischen Erschöpfungskrankheit ME/CFS, weltweit sind es rund 17 bis 24 Millionen. Der Ständerat hat eine Motion angenommen, die Betroffenen mehr Sichtbarkeit, Versorgung und Unterstützung bringen soll. Hier das Wichtigste über die beschlossene Motion:

  • Entwicklung einer nationalen Strategie für ME/CFS und Long Covid
  • Mehr Bewusstsein in Gesellschaft und Gesundheitssystem schaffen
  • Bessere Versorgung und Zugang zu spezialisierten Therapien
  • Hausbesuche für schwer Erkrankte ermöglichen
  • Off-Label-Medikamente vergüten
  • Sensibilisierungskampagnen starten
  • Forschung gezielt fördern

Die 58-Jährige hofft, dass die grössere Sensibilisierung auch die Prozesse mit der Invalidenversicherung erleichtert. Obwohl sie vom zuständigen Arzt 100 Prozent krankgeschrieben wurde, ist sie bei der IV abgeblitzt. Diese hat ihr eine 50-prozentige Arbeitsfähigkeit attestiert. Die Begründung: Sie müsse ihre «subjektiv empfundene Limitierung» überwinden, «dann ginge das schon». Findeisen fühlt sich vom mangelnden Verständnis und der Ignoranz der Gutachter schwer betroffen: «Das ist nicht nur unhaltbar, sondern schädlich.»

Ihr Appell ist klar: «Betroffene wie ich haben eine niedrige Lebensqualität. Man zieht sich zurück von der Gesellschaft, dem Leben und dem Schönen. Es muss gehandelt und hingeschaut werden. Und zwar jetzt.» Trotz aller Dunkelheit mit ihrer Krankheit verspürt Findeisen eine grosse Dankbarkeit. «Ich fühle mich von meinem Umfeld sehr geliebt und unterstützt, das nehme ich so intensiv wahr wie noch nie.»

Sie feiert jeden kleinen Sieg. Sandra Findeisens Körper mag ausgebremst sein, doch sie ist es noch lange nicht. Sie kämpft. Für sich, aber vor allem auch für jene Betroffenen und Angehörigen, die noch weniger Kraft haben als sie. Ihre Botschaft ist klar: So hart die Situation sein mag, so schwierig es auszuhalten ist und so unvorstellbar die Zukunft scheint, die Hoffnung bleibt. Darum gibt sie ihre ganze Energie, um sich Gehör zu verschaffen und über die Krankheit aufzuklären: «Auch wenn ich damit einen Crash und eine Verschlechterung meines Zustands riskiere. Ich will dieses Unwissen nicht einfach so hinnehmen.»

Nach dem Gespräch ist Sandra Findeisen erschöpft. Zur Haustür kann sie uns nicht mehr begleiten. Sie legt sich aufs Sofa. Draussen schauen wir die Zeichnungen an, die sie uns geschenkt hat. Sie zeigen eine farbenfrohe Welt. In diesen Bildern steckt viel von ihr. Ihre Kreativität, ihr Herz und ihr ungebrochener Lebensmut.

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