«Rehabilitation macht Sinn, aber nicht für Opfer-Familie»
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Blick-Reporterin zu Berikon AG:«Mandys Eltern fragen sich: ‹Wo bleibt die Gerechtigkeit?›»

Mandy (†15) wurde in Berikon AG erstochen – jetzt spricht ihre Mutter
«Es tut so weh, ich kann nicht schweigen»

Den gewaltsamen Tod ihrer Tochter Mandy (†15) kann Gabriela M. kaum ertragen. Sie kämpft mit Trauer, Geldsorgen und Unverständnis. Weil die Täterin erst 14 ist, drohen ihr als Strafe höchstens ein paar Tage gemeinnützige Arbeit.
Publiziert: 00:37 Uhr
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Aktualisiert: vor 23 Minuten
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Mandy (†15) wurde von ihrer Freundin Annina B. (14) in Berikon erstochen.
Foto: Helena Graf

Darum gehts

  • 15-jährige Mandy von Freundin erstochen, Mutter spricht über Verlust
  • Täter unter 15 riskieren maximal zehn Tage gemeinnützige Arbeit
  • Mandys Angehörige müssen Anwaltskosten bezahlen
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Helena GrafReporterin

Am Tag ihres Todes überreichte Mandy (†15) ihrer Mama Gabriela M.* (45) ein Konfitürenglas. «50 Gründe, warum ich dich liebe», steht darauf. «Ich habe alle Zettel sofort geöffnet und gelesen», erinnert sich Gabriela M. Es war Muttertag, 11. Mai 2025.

Heute, sechs Wochen später, steht das Glas im Wohnzimmer. Frischhaltefolie hält die Verzierungen fest. Gabriela M. weint. «Es tut so weh, dass meine Tochter weg ist.»

Mandy wurde noch am Muttertag erstochen – im Wald, 600 Meter vom Haus entfernt. Die mutmassliche Täterin: Annina B.* (14) – eine ihrer besten Freundinnen. 

Den Verlust ihrer Tochter hält Gabriela M. kaum aus. Sie kämpft mit Trauer, Geldsorgen und dem Gedanken, dass Annina B. vermutlich nur ein paar Tage gemeinnützige Arbeit leisten muss.

«Ich kann nicht schweigen»

Gabriela M. hat sich entschieden, öffentlich über den Tod ihrer Tochter zu sprechen: «Ich kann nicht schweigen und weitermachen.»

Mandy, schlank, lange dunkelbraune Haare, ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie tanzte Hip-Hop, als Kind Ballett. Auf Videos schneidet sie häufig Grimassen. «Sie wollte die Menschen um sich zum Lachen bringen», sagt Gabriela M.

Frühlingsferien 2025. Mandy besucht mit Annina B. und deren Mutter den Europa-Park. Sie übernachteten dort, Mandy filmt das Zimmer. «Hier schläft Annina, hier schlafe ich.» Ihre Stimme klingt fröhlich. Sie ruft Annina B. zu sich. Spiegel-Selfie, zwei Mädchen, Mandy etwas kleiner.

Annina B. gehörte nicht zu Mandys Clique. Manche Freundinnen hätten sie gemieden, manche kannten sie kaum, sagt Gabriela M. «Aber Mandy hat immer zu ihr gehalten.»

«Ich habe nur noch geschrien»

An den Todestag erinnert sich die Mutter minutiös. Das Glas mit den 50 Gründen. Die Umarmung. Wie sie zu Mandy sagte: «Ich liebe dich so sehr, weisst du das?» Und wie die Tochter antwortete: «Ist ja gut, Mami.»

Zum Zmittag gabs Take-away. Mandys Satz: «Ich werde langsam eine erwachsene junge Frau.» Worte, die Gabriela M. nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Kurz vor 16 Uhr: Mandy geht mit Annina spazieren. Der kleine Bruder sieht sie weggehen.

Mandy (15) und Annina B. (14) waren zusammen auf einem Spaziergang, nicht weit von Mandys Zuhause entfernt.

Gegen 19 Uhr ruft Anninas Mutter an: Beim Schützenhaus sei ein Mord passiert. Mandys Eltern und der kleine Bruder machen sich sofort auf den Weg. Sie rufen Mandy an, schicken Nachrichten. Blaulicht, Absperrbänder. Gabriela M. schreit Mandys Namen, bückt sich unter der Absperrung durch, spricht eine Sanitäterin an. Als die Polizisten näher kommen, weiss sie es. «Ich habe nur noch geschrien.»

Ihr Kind – tot. Die Freundin – verletzt. Gabriela M. schreibt Anninas Mutter noch ein SMS: «Ich hoffe, Annina schafft es. Auch für Mandy.» Erst am nächsten Tag erfährt sie: Annina B. war die Täterin.

Auslöser war kein Streit

Gerüchte machen die Runde. Spekulationen über Konkurrenzkampf unter Mädchen, über Eifersucht, über einen Jungen. Gabriela M. sagt: «Es fühlte sich an, als wolle man Mandy eine Mitschuld geben.»

Annina B. gestand noch im Spital, wie Blick aus einer informierten Quelle erfahren hat. Die Täterin hatte zwei Messer dabeigehabt: ein Küchen- und ein Sackmesser. Einen Streit mit Mandy hat es laut ihr nicht gegeben. Die Schnitte an den Händen habe sie sich selbst zugefügt.

Das Schweizer Jugendstrafrecht setzt auf Rehabilitation. Unter 15-Jährige riskieren maximal zehn Tage gemeinnützige Arbeit. Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung ist Schutz, keine Strafe. Die Kosten trägt der Staat.

Opfer-Angehörige müssen bezahlen

Ziel der Gesetzgebung: Junge Straftäter sollen die Chance auf eine selbstbestimmte Zukunft haben. Sie sollen nicht zu weiteren Straftaten verleitet werden, nicht noch mehr Menschen verletzen. 

Mandys Eltern dagegen müssen ihren Anwalt zumindest teilweise selbst bezahlen. Mehr als 10'000 Franken Genugtuung können sie zudem nicht erwarten. Für die Summe wird wohl der Staat aufkommen. Anninas Eltern haften nur, wenn man ihnen eine Aufsichtspflichtverletzung nachweist. Für Gabriela M. unverständlich: «Wenn mein Kind eine Scheibe einschlägt, muss ich sie doch auch bezahlen.»

Mandys Familie pflegt den Gedenkort in Berikon weiterhin.
Foto: keystone-sda.ch

Die Schweizer Gesetzgebung mag Sinn ergeben. Aber nicht aus Opfersicht. Und nicht bei einer Tötung. «Der Fall wird behandelt, als wäre meine Tochter nichts wert. Für uns war sie alles», sagt Gabriela M.

Immer wieder hat sie die Mutter von Annina B. gefragt: «Wie konnte deine Tochter Mandy so etwas antun?» Die Antwort war immer dieselbe: «Wir können es uns auch nicht erklären.»

«Wir fühlen uns im Stich gelassen»

Familie M. hat Mandy in Portugal beerdigt. Am Tatort in Berikon AG haben Mandys Freunde Blumen, Briefe und Kerzen niedergelegt. Gabriela und ihr Mann besuchen das Denkmal jeden Tag, wollen es pflegen. Die Zukunft – für sie plötzlich unvorstellbar. «Unser Leben wird nie wieder vollständig sein», sagt Gabriela M. «Wir fühlen uns von der Schweiz im Stich gelassen.»

Die Nächte verbringt die Mutter nun im Bett ihrer Tochter. Auf einer Tagesdecke, ohne das Bettzeug darunter zu benutzen, das Mandy an ihrem letzten Tag noch sorgsam gefaltet hat. Sie will die Zeit anhalten. «Wie das Weiterleben ohne Mandy wird, kann ich mir noch nicht vorstellen.»

* Namen geändert 

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