Darum gehts
- Air-India-Absturz: Psychische Probleme des Piloten möglicherweise Mitursache
- Ex-Swissair-Pilot Heiner Lüscher teilt eigene Erfahrung mit Trauer vor Flug
- Lüscher flog 25 Jahre für Swissair und zählte 13’700 Flugstunden
Am 20. September 2005 besteigt Heiner Lüscher (heute 76) aus Aarau das Cockpit seines Flugzeugs. Doch cool wie im Film ist der langjährige Pilot überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Er macht sich Sorgen – darüber, ob er der Richtige ist, heute eine Maschine zu fliegen.
20 Jahre später sagt Lüscher zu Blick: «Mein psychischer Zustand war damals so intensiv gewesen, dass ich vor dem Start – auch wenn ich für solche Situationen geschult wurde – einen gewissen Respekt und Angst gehabt habe.» Lüscher traut sich selber nicht, deshalb sagt er zu seinem Co-Piloten: «Schau mir bitte auf die Finger! Nicht, dass noch etwas passiert.»
Schlussendlich geht alles gut, aber: «Die schlimme Erinnerung bleibt natürlich.»
Der Tod der Mutter
Eine Erinnerung, die gerade schmerzlich wieder hochgekommen ist. Der Auslöser: Der Absturz eines Air-India-Flugzeuges am 12. Juni in Indien, der die ganze Welt schockierte. Über 240 Menschen kamen ums Leben. Bei der Boeing 787 soll eine unterbrochene Treibstoffzufuhr zum Absturz geführt haben. Ein böser Verdacht rückt dabei ins Zentrum der Ermittlungen: Hatte einer der Piloten psychische Probleme, weil er erst gerade seine Mutter verloren hatte? War der Grund für den Absturz ein Suizid?
Sicher ist: Allein dieser Verdacht lässt den Körper von Heiner Lüscher (76) aus Aarau erzittern. «Ich kann mir schon vorstellen, dass der Tod der Mutter vom Piloten im Fall von Indien allenfalls eine Rolle gespielt hat», so der ehemalige, langjährige Pilot. Der Grund: Als Lüscher vor 20 Jahren Zweifel im Cockpit hatte, hatte er selbst kurz zuvor seine Mutter verloren.
Es komme immer darauf an, erklärt Lüscher weiter, wie sensibel die betroffene Person reagiere – auch wenn man eigentlich strukturiert sei. «So ein Ereignis kann schon tief in die Seele reingehen – aber das weiss man im Vorfeld ja nicht. Man kann es auch nicht üben oder trainieren.»
25 Jahre lang bei der Swissair
Lüscher kennt sich aus am Himmel. Der Elektroingenieur machte zwischen 1975 und 1977 den Pilotenschein. «Der erste Flug als Pilot war noch in der Ausbildung, im Januar 1976.» Seinen ersten Verkehrsflug hatte er am 1. April 1977 – «mit einer DC-9 bei der Swissair».
Der Fluggesellschaft bleibt Lüscher 25 Jahre lang treu. Er fliegt Kurz- und Langstrecken und zählt am Ende 13’700 Flugstunden. Dann: Im 2001 groundet die Swissair – und Lüscher verliert seinen Job.
Doch er fliegt weiter. «Ich flog noch vier Jahre lang für einen anderen Fluganbieter», erzählt Lüscher. Es sei dort und auch zuvor bei der Swissair immer alles gutgegangen mit dem Fliegen. Aber: «Als am 19. September 2005 meine Mutter Lisa im Alter von 97 starb, hatte ich grosse Mühe.» Er sei gerade im Zug zur Einsatzbasis seines letzten privaten Arbeitgebers nach Bologna (I) gesessen, als er von ihrem Tod erfahren habe. «Sie hatte gesundheitliche Probleme.»
Die Herausforderung sei dann gewesen: «Ich hatte am nächsten Tag vier Flüge vor mir, die ich nicht absagen konnte, da mein Chefpilot keinen Ersatz fand», sagt Lüscher sichtlich nachdenklich. So habe er eingewilligt, dass er die Flüge am nächsten Tag mache.
Er erzählt Co-Piloten seine Sorgen
Doch Lüscher fühlt sich nicht wohl dabei. Schon vor dem ersten Abheben und dem Sicherheitscheck im Cockpit spricht er mit seinem Co-Piloten. «Ich sagte ihm offen, dass meine Mutter gestern gestorben sei.»
Doch der erfahrene Pilot geht noch weiter. Er nimmt vor seinem Kollegen kein Blatt vor den Mund. «Weil ich nicht wusste, wie ich in extremis reagiere, habe ich ihm noch gesagt, dass er ein wenig auf mich schauen solle. Darauf, was ich mache, was ich sage und entscheide. Und auch, dass er einspringen solle, wenn etwas nicht normal sein sollte», so Lüscher. Es sei wichtig, dass man beim Fliegen auch die psychologischen Faktoren in Betracht ziehe, «nicht nur die manuellen Dinge».
Aus dieser Erfahrung heraus findet es der Ex-Pilot fahrlässig, dass teilweise darüber diskutiert wird, ob es aus wirtschaftlichen Gründen nur noch einen Piloten im Cockpit eines Flugzeuges geben sollte. Lüscher ist sich sicher: «Vom Sicherheitsstandard her wäre dies eine schlechte Lösung.»