Ein unwürdiger Tod
Betagter Nachbar stirbt trotz Hilferufen und Warnungen

Ueli Pfister war verwirrt und hilflos. Doch sein Arzt und die Beiständin liessen Gefährdungsmeldungen von Bekannten ins Leere laufen. Jetzt ist er tot.
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Einen Tag nach dem Besuch der Beiständin war der Senior tot. (Symbolbild)
Foto: Shutterstock

Darum gehts

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Andrea M. Haefely
Beobachter

«Die Ambulanz und ein Polizeiwagen standen vor dem Haus. Einer der Männer trug eine Jacke mit dem Aufdruck ‹Forensik› auf dem Rücken», erinnert sich Meret Müller. Da habe sie gewusst: «Der Ueli, der ist jetzt tot.» Danach hätten sie ihn in einem schwarzen Plastiksack aus dem Haus getragen. «Es war so würdelos.»

Meret Müller heisst in Wirklichkeit anders und war eine langjährige Nachbarin von Ueli Pfister, den wir ebenfalls anonymisiert haben. Man verstand sich gut, teilte mit ihm einen Tiefgaragenplatz. «Alle im Haus mochten ihn. Und ich habe mich immer gefreut, wenn ich ihn Schwyzerörgeli spielen hörte.»

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Der Tod des 70-Jährigen hätte sich vielleicht verhindern lassen. Seine Finanzbeiständin, der Kindes- und Erwachsenenschutzdienst Brugg und auch sein Hausarzt reagierten nicht auf mehrere Gefährdungsmeldungen. Eingereicht hatten sie eine Nachbarin, seine Wundpflegefachfrau und Regina Brechbühl, eine langjährige Bekannte von Pfister.

Er war beliebt in der ganzen Nachbarschaft

Ueli Pfister war alleinstehend, aber in seiner Nachbarschaft und über seine Musik gut vernetzt. Er trat in verschiedenen Formationen auf und brachte vielen Menschen das Spielen bei, auch Regina Brechbühl. «Wir kannten uns seit zwölf Jahren und haben oft zusammen musiziert. Er hat mir gezeigt, wie man auf dem Schwyzerörgeli improvisiert, einen sogenannten Stegreifler spielt», sagt die ehemalige Heimleiterin zum Beobachter.

Ueli Pfister hatte es von klein auf nicht einfach. Seine Mutter war schwer krank, bereits als Kind musste er sie pflegen und den Haushalt besorgen. «Er hatte eine regelrechte Abscheu vor Krankenhäusern, gut möglich, dass er damals schlechte Erfahrungen gemacht hat», sagt Regina Brechbühl.

Er litt an Multipler Sklerose und Diabetes

Seit seiner Jugend litt Ueli Pfister an Multipler Sklerose. Er war stark übergewichtig und entwickelte mit den Jahren Diabetes. Im Alter hatte er deshalb offene Beine. In der Stadt bewegte er sich mit einem elektrischen Seniorenroller. An den besseren Tagen ging er kurze Strecken ohne Stöcke, an den häufigeren schlechten Tagen mit.

«Er war zweimal in der Woche bei mir in der Praxis, immer am Dienstag und am Freitag», erzählt seine Wundpflegefachfrau Petra Hegetschwyler, die ebenfalls in Wirklichkeit anders heisst. «Während ich seine Beine versorgte, erzählte er mir viel aus seinem Leben. Wir verstanden uns wirklich gut.» Für Menschen, die er mochte, komponierte Ueli Pfister gerne ein Lied. Auch für Petra Hegetschwyler und Regina Brechbühl.

Am Freitag, dem 27. Juni 2025, kam Pfister fiebrig zu seinem Wundpflegetermin. Petra Hegetschwyler machte sich Sorgen und bat ihn, seinen Hausarzt aufzusuchen, der im selben Haus praktiziert wie sie. «Aber er wollte nicht, wurde aufbrausend. In solchen Momenten war es sinnlos, mit ihm zu diskutieren.» Ende Juni litt die Schweiz unter einer Hitzewelle.

Am Sonntag verkroch sich Ueli Pfister in der Tiefgarage. Um 15 Uhr traf eine Nachbarsfamilie ihn dort an. Es sei so heiss, habe er ihnen erklärt. Als die Nachbarn um 18 Uhr von ihrem Ausflug zurückkamen, war er immer noch dort.

Immer wieder rückte die Polizei an

Schon im Jahr zuvor hatte es ähnliche Vorfälle gegeben. Einmal hatte ihn Regina Brechbühl in einem desolaten Zustand in seiner Wohnung aufgefunden. Er war hingefallen und hatte nicht mehr aufstehen können. Ein anderes Mal wurde er verwirrt und dehydriert in der Tiefgarage aufgefunden, weigerte sich aber, medizinische Hilfe anzunehmen. Die Polizei musste anrücken. Schliesslich wies ihn die Bezirksärztin zu seinem Schutz ins Spital ein.

Aus Sorge rief die Familie, die ihn in der Garage gefunden hatte, auch diesmal die Polizei. Doch die zog unverrichteter Dinge wieder ab – Ueli Pfister hatte ihnen erklärt, er sei nur wegen der Hitze in der Tiefgarage. Auch seine Nachbarin Meret Müller versuchte, ihn aus der Garage zu locken. «Er machte einen verwirrten Eindruck. Wir boten ihm Wasser an und Glace, aber er wollte nichts.» Einige Stunden später liess er sich endlich in seine Wohnung begleiten.

Nachbarin Meret Müller trägt frühmorgens Zeitungen aus. Als sie am nächsten Morgen um halb vier losging, habe bei Pfister immer noch Licht gebrannt. «Ich machte mir grosse Sorgen und rief gleich nach meiner Tour Regina Brechbühl an.»

Pfisters Bekannte Brechbühl wohnt teils in der Schweiz, teils in Frankreich. «An diesem Montag war ich in Frankreich, konnte also nicht viel ausrichten. Ich riet der Nachbarin, seinen langjährigen Hausarzt anzurufen. Er kannte ihn und seinen Gesundheitszustand ja am besten.»

Beim Hausarzt und der Beiständin abgeblitzt

Das tat Meret Müller. Doch die Praxisassistentin sagte, sie solle doch beim Kindes- und Erwachsenenschutzdienst Brugg anrufen. Wieso wurde der Hausarzt nicht selbst aktiv? Gegenüber dem Beobachter teilt er mit: «Aus Gründen der ärztlichen Schweigepflicht, die auch über den Tod eines Patienten hinaus gilt, darf ich mich nicht zu individuellen medizinischen Situationen oder Kontakten mit dem verstorbenen Herrn äussern.»

Er arbeite seit vielen Jahren mit erfahrenen und engagierten Praxisassistentinnen zusammen, auf die er sich verlassen könne. Dennoch seien auch sie – wie alle Menschen – nicht vor Fehlern gefeit.

Meret Müller berichtete Regina Brechbühl von dem erfolglosen Telefonat. «Ich fand das, gelinde gesagt, irritierend. Es war ja nicht das erste Mal, dass Ueli sich verwirrt verhielt und die Polizei geholt werden musste. Auch von der fürsorgerischen Unterbringung im Spital im Jahr zuvor muss der Hausarzt doch gewusst haben», sagt die ehemalige Heimleiterin.

Schliesslich rief sie wie geraten bei der Behörde an und platzierte ihre Gefährdungsmeldung. «Die Beiständin war sehr unfreundlich», erinnert sich Brechbühl im Gespräch mit dem Beobachter. Passiert sei ihres Wissens nichts.

Am nächsten Morgen wartete Petra Hegetschwyler umsonst auf ihren sonst so pünktlichen Patienten: «Als Ueli um Viertel vor neun nicht zu seinem Termin auftauchte, beschloss ich, bei ihm zu Hause nachzuschauen.»

Sie läutete, aber er machte nicht auf. «Eine Nachbarin erzählte mir, was am Wochenende vorgefallen war, und erklärte mir, dass Ueli oft die Wohnungstüre offen liess, wenn es ihm nicht so gut ging. Also machte ich vorsichtig die Türe auf.»

Der Zustand, in dem sie Pfister antraf, verfolgt Petra Hegetschwyler bis heute. «Es war extrem heiss in der Wohnung. Ueli sass auf einem Stuhl im Gang. Er hatte sich vollgemacht. Es stank fürchterlich, und überall waren Fliegen», sagt sie. Der Flur sei mit Zeitungen bedeckt gewesen, Küche und Bad hätten schrecklich ausgesehen. «Dabei war er immer ein sauberer Mann gewesen.»

Zwar habe er sie erkannt und angestrahlt. Er sei aber offensichtlich verwirrt gewesen und habe fast nicht schlucken und sprechen können. Sie habe es nur unter grossen Anstrengungen geschafft, ihn ins Bett zu bringen. «Ich wollte ihm helfen, sich zu säubern. Aber er wollte einfach die frischen Unterhosen über die verschmutzten Sachen anziehen. Er sei müde.»

Die Beiständin hatte keine Zeit

Danach habe sie alle Fenster aufgerissen, sei auf den Balkon und habe sofort die Beiständin angerufen. Doch die war nicht erreichbar. «Weil ich noch weitere Termine in der Praxis hatte und einen Zahnarzttermin über Mittag, musste ich wieder los. Ich war total überfordert.»

Um 12 Uhr rief die Beiständin endlich zurück. «Sie war ziemlich ungehalten und sagte, sie müsse erst mit dem Gericht klären, was zu tun sei. Und bei Ueli könne sie frühestens um 16 Uhr vorbeischauen», erinnert sich Hegetschwyler.

Um 19 Uhr rief die Beiständin wieder an. Sie und eine Kollegin hätten fast eine Stunde gebraucht, bis Herr Pfister die Tür geöffnet habe. Sie hätten mit ihm abgesprochen, am nächsten Morgen wieder anzurufen. Dann seien sie gegangen. Am nächsten Morgen war Ueli Pfister tot.

Hätte sich das verhindern lassen, wenn die Beiständin darauf bestanden hätte, dass Pfister ins Spital verlegt wird? Wenn sie ihren Klienten zwangsweise eingewiesen hätte? Eine schriftliche Anfrage an die Beiständin blieb unbeantwortet, telefonisch sagte sie, sie wolle keine Stellungnahme abgeben. Die Anfrage an den Kindes- und Erwachsenenschutzdienst Brugg landete bei der Medienstelle der Gerichte Kanton Aargau. Diese antwortet, dass aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes zu konkreten Kindes- und Erwachsenenschutzfällen wie dem Fall leider keine Auskunft erteilt werden könne.

Epilog

Ein kühler Morgen im spätherbstlichen Brugg AG. Im Behandlungsraum von Wundpflegerin Hegetschwyler sitzen auch Regina Brechbühl und Patrick Moser, der mit Ueli Pfister über zwei Jahrzehnte musizierte. Auch ihn haben wir anonymisiert.

Die drei erzählen von seinen letzten Tagen. Aber auch von seinem Leben, von seiner Musik, seinem liebenswerten Wesen und seiner manchmal aufbrausenden Art. «Ich vermisse ihn», sagt Petra Hegetschwyler leise.

Weil zunächst weder Erben noch ein Testament ausfindig gemacht werden konnten, wollten seine Musikerfreunde sein Begräbnis ausrichten. «Ueli sollte nicht einfach verscharrt werden», sagt Patrick Moser. «Er lag ja schon seit einem Monat in einer Kühlkammer.»

Doch dann die Nachricht, es sei doch ein Testament gefunden worden. «Wir durften die Beisetzung doch nicht ausrichten. Leider. Sein Erbe liess ihn in einem anonymen Massengrab beisetzen. Es kamen gerade mal 20 Personen», sagt der Musikerkollege. «Wir erfuhren von dem Termin nur per Zufall.

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