Gamen statt pedalen – Experten schlagen Alarm
Die Schweiz verlernt das Velofahren

Was einst in der Kindheit ein Freiheitssymbol war, verschwindet langsam aus dem Alltag: Immer weniger Kinder lernen, Velo zu fahren. Das hat Folgen für ihre Selbständigkeit und unsere Verkehrszukunft.
Publiziert: 18:05 Uhr
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Aktualisiert: 18:50 Uhr
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Für die einen ist die Veloprüfung Motivation, für die anderen Frust.
Foto: Keystone

Darum gehts

  • Immer weniger Schweizer Kinder können Velo fahren, was deren Mobilitätsverhalten prägt
  • Eltern übertragen das Velofahren-Lernen der Schule, Überbehütung spielt eine Rolle
  • Velonutzung bei Kindern und Jugendlichen hat sich seit 1994 halbiert
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Lino SchaerenRedaktor

«Einmal gelernt, gehts nie mehr vergessen», heisst es über das Velofahren. Dumm nur: Immer weniger Kinder in der Schweiz können es überhaupt. Für ein Land, das sich nachhaltige und aktive Mobilität auf die Fahne schreibt, ist das ein Alarmsignal. Denn wer nie gelernt hat, sich auf dem Sattel im Verkehr zu bewegen, bleibt später lieber im Auto sitzen. In jungen Jahren wird das Mobilitätsverhalten geprägt – und zwar dauerhaft.

Roger Bader (57) weiss, wovon er spricht. Der Fachstellenleiter Verkehrsinstruktion bei der Kantonspolizei Solothurn sagt: «Wenn wir in der vierten Klasse mit der Vorbereitung auf die Veloprüfung beginnen, haben immer mehr Kinder noch nie auf einem Velo gesessen.»

Bader erlebt den Wandel seit Jahren. Was früher selbstverständlich war, zeigt heute ein krasses Gefälle innerhalb der Schulklassen. Und: Das Problem betrifft längst nicht nur Solothurn. Eine Umfrage unter den Kantonen zeigt überall dasselbe Bild: Die Fahrfähigkeiten nehmen ab – in Städten noch stärker als auf dem Land.

Eltern erziehen Mitfahrer, statt Velofahrer

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Laut der Mobilitätserhebung des Bundes hat sich die Velonutzung bei Kindern und Jugendlichen seit 1994 halbiert. Heute schwingt sich nicht einmal mehr jeder fünfte 13- bis 15-Jährige täglich in den Sattel. Bader beobachtet zwei Extreme: «Viele Kinder fahren nach wie vor früh und sicher, gleichzeitig nimmt die Zahl der Schülerinnen und Schüler zu, die wegen motorischer Defizite das Gleichgewicht nicht halten können.»

Der Verkehrsexperte spricht von einer Schere, die sich stetig weiter öffnet. Die Verantwortung sieht er bei den Eltern. «Velofahren hat für viele Eltern keine Priorität mehr. Sie übertragen die Aufgabe der Schule.» Das heisst: mehr Aufwand für Verkehrsinstruktoren – und für die Lehrpersonen.

Natürlich spielen auch Social Media und Gaming eine Rolle – Kinder verbringen mehr Zeit drinnen. Doch entscheidend ist das Verhalten der Eltern. Das zeigen diverse Studien. Wer selbst für kurze Strecken ins Auto steigt, zieht kleine Mitfahrer statt Velofahrer gross.

Eine Studie der Universität Lausanne im Auftrag des Bundes von 2021 verdeutlicht: Die Velonutzung hängt stark von familiärer und sozialer Prägung ab. Jugendliche fahren eher Velo, wenn Eltern und Freunde es auch tun – und je höher das Bildungsniveau der Eltern, desto positiver die Einstellung zum Drahtesel.

Zur «Velofaulheit» bei Kindern trägt auch die Überbehütung bei. Die sogenannten «Rasenmähereltern» wollen jede Gefahr für ihre Kinder aus dem Weg räumen – auch die Strasse. Ein typisches Symptom: Elterntaxis.

Faule Ausreden überall

Verkehrsinstruktor Roger Bader kennt das Problem nur zu gut: «Ich spreche vor dem Kindergarten zehn Eltern an, die ihre Kinder mit dem Auto bringen. Acht sagen, sie seien nur heute da, als Ausnahme. Am nächsten Tag stehen dieselben acht Autos wieder da.»

Doch das gut gemeinte Chauffieren hat Folgen. Kinder bewegen sich weniger, lernen keine Selbständigkeit – und werden paradoxerweise noch mehr gefährdet. Vor Schulen stauen sich Autos, Kinder werden zwischen fahrenden Fahrzeugen ausgeladen.

Auch Anne Bernasconi (48), Leiterin der Allianz Schule+Velo bei Pro Velo Schweiz, beobachtet die Entwicklung mit Sorge. Sie sieht eine zu einseitige Entwicklung in der Verkehrspolitik: Das neue Veloweggesetz stärke die Infrastruktur, doch auch Bildungs- und Förderangebote sollten mehr Gewicht erhalten. «Ziel ist ein integriertes Investitionspaket, das auch den Aufbau der Velokultur, beispielsweise den Verkehrsunterricht, stärkt.»

Bernasconi fordert, Velofahren endlich stärker als Bildungsthema zu behandeln. «Klar, eigentlich sollten Eltern ihren Kindern das Fahren beibringen. Aber die gesellschaftliche Realität hat sich verändert, also wäre ein Schritt in diese Richtung zu begrüssen.» Ihr Vorschlag: Dem Velofahren im Lehrplan den gleichen Stellenwert geben wie dem Schwimmunterricht. Velolager statt nur Skilager. «Kinder haben Spass am Velofahren. Aber sie müssen damit in Kontakt kommen.»

Köniz leiht Schulkindern Velos

Ein Vorzeigebeispiel ist für Bernasconi die Gemeinde Köniz BE. Mit dem Projekt «Fuss Velo Köniz» organisiert sie kostenlose Velo-Sicherheitschecks für Schülerinnen und Schüler und stellt Leihvelos für Kinder ohne eigenes Rad bereit.

Zudem hat Köniz einen Pool von Helferinnen und Helfern aufgebaut, die Klassen bei Veloausflügen oder Fahrten zur Badi begleiten – und so Lehrpersonen entlasten. Rund um Schulhäuser werden Fahrverbote für Autos eingeführt. «Ich wünsche mir, dass diese Initiative auf andere Gemeinden abfärbt», sagt Bernasconi. Sie ist überzeugt: Nur wenn Eltern, Schule und Behörden zusammenspielen, steigen Kinder wieder aufs Velo.

Wie dringend das ist, zeigt sich im Kanton St. Gallen. Dort werden immer mehr Kinder gar nicht mehr zur Veloprüfung zugelassen – sie fahren zu schlecht. Was eigentlich motivieren und Sicherheit geben sollte, endet für viele im Frust.

Lehrerinnen stark gefordert

In Solothurn ist es noch nicht so weit. Dort würden auch Kinder ohne Veloerfahrung für die Prüfung fit gemacht, sagt Roger Bader. «Die meisten können starten und bestehen, aber der Aufwand ist massiv gestiegen.»

Nicht nur für die Verkehrsinstruktoren – auch für die Lehrpersonen, die sich unermüdlich engagieren. Sie sorgen dafür, dass das Velo vielleicht doch bleibt, was es für Kinder seit jeher war: ein Symbol für Freiheit, Bewegung, Unabhängigkeit – und Spass.

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