Darum gehts
Für einen Moment hat Emil Kessler vier Arme, zwanzig Finger. Der 75-Jährige hält die zwei Prothesen seiner Frau in den Händen. Schwer sind sie. Aus schwarzem Kunststoff dort, wo sie eng an den Unterarmen anliegen sollten. Die nachgebildeten Hände sind aus Silikon, lebensecht. Innen drin ist alles voller Sensoren: Hightech. Klauben, Tippen, Drücken, Kratzen – alles programmierbar.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Genutzt habe seine Frau die Dinger aber kaum, erinnert sich Kessler. Denn wegen der unzähligen Operationen und Arztbesuche habe man ihr regelmässig in die Armbeugen stechen müssen. Das habe das Tragen unangenehm gemacht. Er legt die Roboterarme zurück auf die Kommode und greift in eine Schublade neben ihm. «Diese hier hat Verena getragen, wenn sie gejätet hat», sagt er und hält eine glänzende Metallklaue in die Höhe. «Und diese hier hat die Grundversicherung bezahlt.» Aus der Schublade taucht eine fleischige Hand auf, bei der sich nur der Daumen bewegen lässt.
«Es gaat öppis ume»
Die Tragödie, die Verena Kessler zwei Hände und einen Fuss kosten wird, nimmt im Jahr 2010 ihren Anfang. Es ist eine Woche nach Bettag. Dann, wenn in einer kleinen Aargauer Gemeinde jeweils Markttag ist. Emil und Verena Kessler stellen im Morgengrauen ihren Stand auf. Hand in Hand. So wie es das Ehepaar mit so vielem macht. Um die beiden zu schützen, haben wir ihre Namen anonymisiert und gewisse Lebensumstände verfremdet.
Am Abend des Markttages bekommt Verena Kessler plötzlich Schüttelfrost, dann hohes Fieber – bis zu 40 Grad. Dann erbricht sie. Dann bekommt sie Durchfall. Ihr Mann ist beunruhigt. Er wählt die 144. Dort tippt man auf eine Magen-Darm-Grippe: «Es gaat öppis ume.» In der Nacht geht es Verena Kessler immer schlechter. Frühmorgens telefoniert Emil Kessler mit dem Hausarzt. Auch dort: «Es gaat öppis ume.» 14 Stunden nach dem ersten Anruf und nachdem Kessler nochmals insistiert hat, kommt der Rettungswagen dann doch.
Mehrere Amputationen
Verena Kessler landet mit einer lebensgefährlichen Blutvergiftung auf der Intensivstation. «Ihre Lippen waren ganz blau», erinnert sich ihr Mann. «Wie bei Kindern, die zu lang im Wasser waren.» Weil der Körper bei einer Sepsis nur noch die wichtigsten Organe mit ausreichend Blut versorgen kann, beginnen sich nach und nach auch Verena Kesslers Finger und Füsse blau zu verfärben. Emil Kessler soll sich entscheiden – und zwar sofort: Maschinen abschalten oder nicht? Niemand kann ihm sagen, wie die Sache ausgehen wird. Doch er kann seine Verena nicht ziehen lassen und veranlasst, dass sie ins Zürcher Unispital verlegt wird.
Verena Kessler überlebt. Die Lippen, beide Hände und der linke Fuss müssen amputiert werden. Über ein halbes Jahr verbringt die damals 68-Jährige in Kliniken. Ihr Mann besucht sie jeden Tag.
«Sie war eine rassige Frau – bis zum Schluss und trotz all den Operationen», sagt Emil Kessler und strahlt. Er ist ein schmaler Mann mit Schnurrbart und grossen Händen. Gschaffig.
Als sich das Paar kennenlernte, war sie frisch geschieden, mit einem kleinen Sohn und acht Jahre älter als er. Er war Gast im Restaurant, wo sie kellnerte. «Es war Liebe auf den ersten Blick.»
Sie ziehen kurz darauf zusammen und heiraten. Er nimmt den Sohn wie seinen eigenen an. Der leibliche Vater schert sich nicht um ihn, zahlt auch keine Alimente. Das Paar krampft – gemeinsam als Marktfahrende in der Schweiz. Und Emil Kessler auch noch als Werkzeugmacher. «Verena war eine fleissige Frau. Dass sie ausgerechnet beide Hände verlor, war das Schlimmste.»
Nach der Blutvergiftung im Jahr 2010 ist alles anders. An guten Tagen kann Verena Kessler dank einer Beinprothese kurze Strecken gehen. Dann kauft das Paar zusammen ein, spaziert durch die Läden, verbindet die etlichen Arzttermine mit einem gemütlichen Zmittag, fährt mit dem Wohnwagen sogar ins Glarnerland campen. Und wenn Verena Kessler ihren Mann an einen Markt begleitet, setzt sie sich hinter den Stand, kassiert ein und gibt das Rückgeld heraus. Flink, auch ohne Hände.
Und dann kommt 2020 Corona. Die Welt wird klein. «Verena kannte viele Leute, war kontaktfreudig.» Dass alles zuging, alle Märkte abgesagt wurden, das hat ihr schwer zugesetzt. Sie verbringt die Tage fast nur noch im Bett und sieht fern. Am 8. August 2021 stirbt Verena Kessler mit 79 Jahren.
«In den elf Jahren hat sie nie geklagt», sagt Emil Kessler. Wenn man sie gefragt habe, wie es ihr gehe, habe sie immer gesagt: «Mir geht es doch gut.» – «Wir haben nicht viel über die Situation gesprochen. Wir haben das einfach akzeptiert.» Doch etwas kann Emil Kessler nicht akzeptieren. «Ich muss den Rest meines Lebens mit der Faust im Sack rumlaufen», sagt er, und sein Gesicht wird hart.
Plötzlich meldet sich der Sohn
Kurz nach dem Tod von Verena Kessler meldet sich ihr Sohn. Er hatte den Kontakt zum Ehepaar schon seit Jahren eingestellt. «Doch als es ums Erben ging, war er der Erste», sagt Kessler gepresst. In der ganzen Zeit habe er sich nie um seine Mutter gekümmert. Sich nicht darum geschert, wenn es ihr schlecht gegangen sei. Nicht einmal ins Spital sei er gekommen, als sie im Sterben lag. «Und jetzt wollte er wissen, wo die Millionen seien», so Kessler.
Tatsächlich hatte Verena Kessler Geld bekommen. Von der Berufshaftpflichtversicherung ihres Hausarztes, der damals die Blutvergiftung nicht erkannt hatte. Sie erhielt Schmerzensgeld und zusätzlich etwas für den sogenannten Haushaltsschaden. Also den Ausfall, den sie erlitt, weil sie sich fortan nicht mehr um den Haushalt kümmern konnte und dafür jemanden einstellen musste. Und allein 820’000 Franken zahlte die Versicherung für die erwarteten Betreuungs- und Pflegekosten.
Doch gehaushaltet, betreut und gepflegt hat während all der Jahre eigentlich nur einer: ihr Mann Emil.
2011, als seine Frau aus der Reha nach Hause kam, übernahm Emil Kessler Pflege und Hausarbeit. Er half ihr im Alltag, wusch, putzte und kochte. Na ja – kochen sei etwas übertrieben, erinnert er sich. «Ich habe einfach ausgeführt, was Verena mir gesagt hat. Ich war ihre Hände.»
Erst im Nachhinein habe er erfahren, dass er mit seiner Frau einen Pflege- und Betreuungsvertrag hätte abschliessen können, sagt er. Doch wer mache das schon? Einen Vertrag mit seiner eigenen Frau? «Für mich war es einfach selbstverständlich, dass ich mich um Verena kümmere.» Doch wenn das Paar einen solchen Vertrag geschlossen hätte, wäre zumindest seine Arbeit entlöhnt worden. Im Nachhinein kann er dafür nichts mehr geltend machen – auch wenn er selbst über Jahre beruflich zurückstecken musste. Das heisst: Alles Geld, das das Ehepaar dank Emil Kesslers Einsatz ansparen konnte, fällt in den Nachlass. «Da stimmt doch etwas mit dem Gesetz nicht.»
Das Paar hat nichts vorgekehrt
Tatsächlich ist die Rechtslage so: Überlebende Ehegatten müssen das Erbe mit den Kindern teilen. Zumindest dann, wenn die Verstorbene kein Testament geschrieben oder keinen Erbvertrag abgeschlossen hat. Das Ehepaar hat nichts vorgekehrt. Ein grosser Fehler. Wenn man seinen Nachlass regeln will, muss man tätig werden. Sonst kommt einfach das Gesetz zum Zug.
Der Stiefsohn will Geld sehen. Untereinander wird man sich nicht einig. 2022 sehen sich die beiden vor Gericht. Dort habe er sich zu einem Vergleich überreden lassen, sagt Kessler. Sein Stiefsohn erhält einen sechsstelligen Betrag. «Wie kann das sein?», fragt Kessler etwas lauter. Jemand, der seine Mutter im Stich gelassen, jeglichen Kontakt abgeblockt habe. «Er, der seine Hände während all der Zeit quasi in den Hosentaschen hat stecken lassen, macht jetzt die hohle Hand.»
Die Ungerechtigkeit nagt an ihm
Was sagt der mittlerweile 51-jährige Sohn von Verena Kessler dazu? Auf eine Anfrage des Beobachters hat er nicht reagiert. Für ihn scheint die Sache abgeschlossen zu sein. Nach der Gerichtsverhandlung hat er das seinen Stiefvater mit ein paar wenigen Zeilen auch wissen lassen.
Doch für Emil Kessler ist die Sache nicht abgeschlossen. Drei Jahre nach dem Gerichtstermin nagt es immer noch an ihm. Diese vielen verpassten Gelegenheiten, die Dinge noch zu Lebzeiten zu regeln. Mit der Ungerechtigkeit, die das Schicksal für ihn und seine Frau bereithielt, kann er leben. Mit der Ungerechtigkeit, die ihm aus seiner Sicht durch den Stiefsohn und die Gesetze widerfahren ist, aber kaum.
Seine Hände, die gearbeitet, gepflegt und gestreichelt haben, sind nun auf die Tischplatte gebettet. Ineinander gefaltet, schwer. Und müde.