«Wir haben es den Lehrern zuerst nicht geglaubt»
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Handyverbot an Schulen in NW:«Wir haben es den Lehrern zuerst nicht geglaubt»

Digitaler Entzug
Handyverbot an Schulen spaltet die Schweiz

Immer mehr Kantone verbannen Smartphones aus Schulen – aus Sorge um Konzentration und psychische Gesundheit. Kritiker warnen: Das löst keine Probleme, es verschärft sie.
Publiziert: 16:03 Uhr
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Aktualisiert: 20:00 Uhr
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Das Handy bei Schulbeginn abgeben: Das gilt bereits an vielen Schweizer Volksschulen.
Foto: keystone-sda.ch

Darum gehts

  • Handyverbot an Schulen: Debatte über Integration oder Verbannung von Smartphones
  • Experten diskutieren Vor- und Nachteile, Pro Juventute fordert mehr Prävention
  • 82 Prozent unterstützen laut Sotomo-Umfrage ein Handyverbot an Schulen
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Lino SchaerenRedaktor

Am Montag beginnt für Schülerinnen und Schüler in den Kantonen Aargau, St. Gallen und Basel das Schuljahr 2025/26 – mit neuer Klasse, neuen Lehrpersonen – und teils einem strikten Handyverbot.

Die Verbannung von Smartphones aus der Schule ist politisch auf dem Vormarsch: Sie soll Ablenkung im Klassenzimmer beenden, auf dem Pausenplatz wieder Gespräche und Spiele ermöglichen – statt Tiktok und Instagram.

Im Aargau, Wallis und Nidwalden gilt neu ein generelles Verbot, in der Waadt ist es seit 2018 in Kraft. Weitere Kantone diskutieren. Das Handyverbot ist gesellschaftlich populär: 82 Prozent unterstützen es laut Sotomo-Umfrage vom Dezember.

Doch ist Verbannung statt Integration des Smartphones der richtige Weg? Oder Ausdruck politischer Hilflosigkeit?

US-Autor heizt Debatte an

Seit der Pandemie läuft die Debatte: Lehrpersonen klagten nach dem Fernunterricht über eine Smartphone-Flut auf dem Schulgelände. Dann kam Jonathan Haidt (61). Mit seinem Bestseller «Generation Angst» landete der US-Psychologe einen Volltreffer.

Seine These: Die mentale Gesundheit junger Menschen leidet seit 2010 dramatisch unter drei technologischen Trends – Smartphones, Social Media und Selfie-Kultur. Haidt schreibt: «Viele waren erleichtert, als sie herausfanden, dass ein Smartphone oder ein Tablet ein Kind stundenlang beschäftigen und ruhig halten konnte.» Aber war das sicher? Da es alle machten, habe man angenommen, es sei in Ordnung.

Kinder verlieren laut Haidt durch das Abdriften in eine virtuelle Welt soziale Kompetenzen wie Gespräche, Berührungen oder Blickkontakt. Sein Vorschlag: Kein Smartphone vor 13, keine Social Media vor 16 – und Handyverbot an Schulen.

In den USA hat das Buch des Psychologen eine riesige Bewegung ausgelöst, mittlerweile gilt bereits in 37 Staaten ein Handyverbot. Auch in der Schweiz ist Haidt in der Bildungspolitik allgegenwärtig – obwohl seine Thesen wissenschaftlich umstritten sind: zu einseitig, zu radikal, sagen Kritiker. Zudem sind bisherige Studien zur Wirkung von einem Handyverbot an der Schule widersprüchlich.

«Scheinbar einfache Lösung»

Doch der Brand ist längst gelegt. Das Thema triggert auch Erwachsene: Wer kennt es nicht – rasch aufs Handy schauen, dann stundenlang scrollen? Wie sollen Jugendliche Selbstkontrolle lernen, wenn es nicht einmal den Eltern gelingt?

Christoph Darbellay (54, FDP), Walliser Bildungsdirektor und Präsident der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK), sagte im Juni im Blick: «Die Probleme mit Handys in Schulen sind teils gravierend.» Doch nicht alle Kantone folgen. Solothurn, Schwyz, Zürich und Luzern lehnen Verbote ab. Auch Lehrer- und Schulleiterverband plädieren für individuelle Regeln statt pauschale Verbote.

Für Lulzana Musliu (36) von Pro Juventute zeigt die Debatte eine Überforderung im Umgang mit der sich rasend schnell entwickelnden digitalen Welt: «Bei Überforderung greift man zu scheinbar einfachen Lösungen. Ein Verbot wirkt, als seien die Probleme gelöst.» Stattdessen brauche es mehr Mittel für Prävention: Die Nachfrage nach Medienkompetenz-Workshops übersteige die Ressourcen von Pro Juventute bereits heute deutlich. «Wir sind im zweiten Halbjahr bereits restlos ausgebucht», so die Sprecherin der Stiftung für Kinder und Jugendliche.

Wird soziale Ungleichheit verschärft?

Bildungsforscher Stephan Huber (53) versteht die Forderung nach einem Handyverbot, es brauche eine Regelung. Aber ein pures Verbot helfe nur begrenzt, die Probleme würden damit in die Freizeit verlagert. Digitalität dürfe ohnehin nicht nur als Risiko gesehen werden, sagt Huber. «Richtig eingesetzt, ermöglicht sie viele Vorteile auch für das Lernen.»

Digitale Geräte gehörten heute zur Realität. Wer den reflektierten Umgang zu Hause lerne, sei im Vorteil. Schulen müssten bei sozialen Ungleichheiten ausgleichen, sonst verfehlten sie ihren Bildungsauftrag. «Werden digitale Medien nicht aktiv in Bildung integriert, verschärfen sich die Unterschiede», sagt Huber. «Wir müssen allen Kindern beibringen: Wann nutze ich digitale Geräte, wie nutze ich sie – und wann nicht.»

Dafür brauche es kluge, mit den Eltern abgestimmte Regeln. Der Bildungsforscher ruft dazu auf, die Stärken der digitalen Medien bewusst zu nutzen und die Risiken wie Mobbing, Missbrauch oder Suchtverhalten aktiv zu thematisieren und zu unterbinden.

Tristesse auf dem Pausenplatz

Regeln zum Umgang mit Smartphones, Tablets oder Smartwatches kennen inzwischen die meisten Schweizer Volksschulen, oft an die Schulstufe angepasst. Darauf verweist auch der Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer. So schränkte etwa eine Aargauer Sekundarschule den Handygebrauch auf dem Schulgelände im Februar stark ein, weil «die Tristesse auf dem Pausenplatz mit vielen mobiltelefonfixierten Jugendlichen unübersehbar» sei, wie sie in einem Newsletter schrieb.

Im Juni war das Fazit positiv: «Auf dem Pausenplatz wird wieder miteinander gesprochen, gelacht, gespielt, im Unterricht können sich die Schülerinnen und Schüler besser konzentrieren.» Nun wird die individuelle Regelung an der Oberstufe durch das angeordnete kantonale Verbot abgelöst.

Lulzana Musliu von Pro Juventute sieht im Handyverbot auch ein Stück weit Symbolpolitik. Das Problem seien Apps und Algorithmen, die auf Sucht ausgelegt seien und gezielt Minderjährige ins Visier nähmen. Tech-Riesen wie Meta oder Alphabet hätten riesige Reichweite und kaum Regulierung. «Die Politik wälzt Verantwortung auf Kinder und Eltern ab, während die Unternehmen nicht zu echtem Jugendschutz verpflichtet werden.»

Der Bundesrat zaudert

Auch der Bundesrat will Social-Media-Plattformen stärker regulieren – eigentlich. Doch die Gesetzesvorlage wird seit 2021 immer wieder verschoben. Dafür prüft die Landesregierung mittlerweile ein Social-Media-Verbot für unter 16-Jährige.

Der Ständerat folgte dem Postulat der Grünen Maya Graf (63, BL) einstimmig. Graf argumentiert, dass das Smartphone die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen schädige. Und verweist dabei auf – Jonathan Haidt.

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