Darum gehts
Das Thema ist delikat. Kurz nachdem die gewaltige Bergsturzmasse Blatten unter sich begraben hat, sticheln die ersten Unterländer mit giftigen Fragen: Soll man solche Gebiete noch bewohnen dürfen? Wenn ja, zu welchem Preis? Wäre es nicht besser, gewisse Hochtäler zu räumen?
«Nein!», schreit es ihnen seither aus dem Wallis entgegen. Staatsrätin Franziska Biner findet die Haltung «eine Frechheit». Der angehende Mitte-Parteipräsident Philipp Matthias Bregy «pietätlos». Ein Gemeindepräsident aus dem Goms, dessen hässiger Leserbrief aus der «NZZ» in den sozialen Medien fleissig geteilt wurde, «entmenschlichend».
Man ist sich einig: Die Bergbevölkerung muss geschützt werden. Überwacht die Alpen! Gebt uns Schutzbauten! Sprecht um Himmels willen Geld! Der Mitte-Ständerat Beat Rieder drückt in der «NZZ» auf den Alarmknopf, spricht von einem «Zerfallsprozess». Seine Botschaft: Will die Schweiz die Bergler nicht absichern, ist sie erledigt. Dann ist die Solidarität am Ende, das Land bricht auseinander, fertig. Die Sicherheit der Bergler – gemäss Rieder ist sie die Raison d’Être der Schweiz.
Nun, man könnte das Gifteln aus dem Flachland auch einfach ignorieren, gelassen bleiben. Offenbar fällt das schwer. Die Unterländer treffen einen Nerv. Als triggerten sie eine alte Angst. Jene davor, dass die mächtigen Alpenlandschaften einmal ganz ohne Volk dastehen. Verlassen. Leblos. Ballenberg!
Den Historiker Jon Mathieu überrascht das nicht. Er hat sein ganzes Arbeitsleben lang zu den Bergen geforscht und sagt: «Entvölkerungsängste gibt es in Bezug auf die Schweizer Alpen seit dem 19. Jahrhundert.» Aktiviert würden sie jeweils bei einem Ereignis wie jetzt in Blatten.
Abwanderungswellen in den Bergregionen
Seit eh und je haben sich die Alpen gegen die Menschen gestellt. Durch Bergstürze, Murgänge, Lawinen. Allein während der Kleinen Eiszeit (1350–1860) schoben sich die Gletscher weit hinab und zerstörten Höfe, Kirchen, ganze Dörfer. Ihre Ängste vor der Bergwelt haben die Menschen in alten Sagen verarbeitet. Prophetisch wirkt heute jene mit dem Titel «Der Untergang von Lötschen», die im Buch «Walliser Sagen» niedergeschrieben ist:
«Blatten wird von den weissen Schnecken untergraben,
der hangende Gletscher wird Wiler in den Bannwald schlagen,
Kippel, das auf Schwarzerlen gebaut ist, wird von der Lonza fortgespült,
und Ferden wird vom Golnbach in die Kreschärru hinabgeschlagen.»
Die Gefahren, die Bedrohung der Existenz – sie sind in der DNA der Berglerinnen und Bergler eingeschrieben. Umso mehr, als im 19. Jahrhundert noch ein weiteres Unheil aufkommt: die Industrialisierung.
Sie verschafft den Städten in und um die Schweiz einen wirtschaftlichen Aufschwung. Und entzieht den Bergkantonen Bewohner, die dort Arbeit finden. Noch heute zeugen alte Villen im Tessin und in Graubünden von den Mannen, die in Florenz (I) oder Bordeaux (F) als Zuckerbäcker reich geworden sind. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wandern laut dem Historiker Jon Mathieu zudem scharenweise Bergler nach Übersee aus. Walliser gründen Kolonien in Argentinien, Tessiner und Glarner auch in den USA. Wegen all dem schrumpft der Anteil der Alpenbewohner an der Gesamtbevölkerung zwischen 1850 und 1950 – von 19,1 auf 15,1 Prozent.
Der Kampf gegen die Alpen-Entvölkerung
All das schreckt auf. Und bringt um den Ersten Weltkrieg herum eine nationale Debatte in Gang.
Sinnbildlich dafür ist ein riesiges Steinkreuz, das heute im Kanton Uri auf dem Piz Calmot beim Oberalppass steht. Die Bergler haben das Denkmal zu Ehren des ehemaligen Nationalrats Georg Baumberger (1855–1931) errichtet. Die Inschrift: «Ex montibus salus» – aus den Bergen das Heil.
Baumberger ist der Heilsbringer.
Er bringt 1926 eine Sorge ins Bundeshaus, die im Unterland zu jener Zeit niemand kümmert: die Entvölkerung der Hochtäler. Er reicht eine Motion ein, die eine Untersuchung davon fordert, wie es den Berglern geht. Wie viele es sind, wie sie leben, wie sie arbeiten, und wie sie wirtschaftlich dastehen. Also: Wo sie überall Hilfe brauchen. Baumberger hält eine mahnende Rede: «Sollte unsere Generation kampflos kapitulieren, ohne auch nur einen ernsten Versuch zu wagen, dem Unheil zu steuern … das wäre unwürdig, wäre fast feige.»
Das sitzt. Plötzlich sorgt sich die ganze Schweiz um die Bergler.
Die Zeitungen füllen ihre Spalten damit. Die «NZZ» schreibt von den «Gefahren» und dem «largen Brot», das die Alpen den Menschen bescheren würden. Auch das Parlament reagiert. 1929 erweitert es das Landwirtschaftsgesetz mit Stellen, die die Unterstützung der Berggegenden und der Kleinbauern vorsieht. Und der renommierte ETH-Agronom Hans Bernhard (1888–1942) erarbeitet eine Studie zum Bedrettotal im Tessin, in der er zum Schluss kommt, dass man aus «nationalpolitischen Gründen nicht zusehen» könne, «wie unsere schönsten Landesteile wirtschaftlich» verödeten. «Die Älpler» müssten die Gewissheit haben, «dass sie in ihrem schweren Kampf um Wohn- und Nährraum» nicht allein stünden.
Will man Bergler vertreiben, wehren sie sich
Das bringt uns in die Gegenwart. Ähnliches hören wir jetzt von Biner, Rieder und Bregy. Doch, weil sie Bergler sind und für ihresgleichen sprechen, schwingt noch eine andere Botschaft mit, eine Warnung: Uns Bergler vertreibt man nicht so schnell. Schon gar nicht, nur weil es das Unterland so will.
Man glaubt es ihnen sofort. Älpler vor ihnen haben es vor langer Zeit bewiesen.
Die Behörden haben in den 1940er-Jahren grosse Pläne für den Kanton Uri, für die ganze Schweiz. Im Urserental wollen sie einen Stausee schaffen, um das Land mit Energie zu versorgen. Andermatt, Hospenthal und Realp sollten unter den Fluten verschwinden. 2000 Menschen müssten alles aufgeben und umsiedeln. Für die Behörden: eine Formsache. Für die Einheimischen: ein Skandal! Am 19. Februar 1946 zetteln sie einen Volksaufstand an. In Andermatt rotten sich 300 Dörfler zusammen, verwüsten das Büro eines Planers, prügeln einen Ingenieur durchs Dorf und jagen ihn aus dem Tal. Das Projekt ist erledigt.
Seither gibt es zwar immer mal wieder eine Debatte – in den Nullerjahren wegen der Idee von ETH-Architekten, strukturschwache Täler zu «alpinen Brachen» verwildern zu lassen, doch von grossen Umsiedlungsplänen lässt die Politik bis jetzt die Finger.