Ärztekrise im Tessiner Onsernonetal – Pensionierung unmöglich!
Ein Bergarzt kämpft für die Zukunft seiner Praxis

Beppe Savary-Borioli hat ein halbes Leben lang das Tessiner Onsernonetal medizinisch versorgt. Jetzt will er gehen – aber wer kann ihn ersetzen?
Publiziert: 14.06.2025 um 18:41 Uhr
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Aktualisiert: 14.06.2025 um 19:12 Uhr
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Arzt Beppe Savary-Borioli sucht eine Nachfolge.
Foto: MASSIMO PEDRAZZINI

Darum gehts

  • Josef Savary-Borioli kehrte aus dem Ruhestand zurück, um Arztpraxis im Onsernonetal weiterzuführen
  • Er war über 40 Jahre lang Arzt im Tal
  • 12,6 Prozent der praktizierenden Ärzte in der Schweiz sind 65 oder älter
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Sara BelgeriRedaktorin

Eigentlich war Josef «Beppe» Savary-Borioli ja schon weg, im wohlverdienten Ruhestand. Die Praxis hatte er einem jungen Ärzte-Ehepaar übergeben. 

Es gab genug Gründe, um nicht zurückzukehren. Da war seine Frau, die ihm ein Ultimatum stellte: «Im Bett ab jetzt entweder das Telefon oder ich.» Denn es gab Zeiten, da klingelte es dreimal in der Nacht, und er musste ausrücken. Und kurz nach der Pensionierung mit 68 Jahren: eine akute Pankreatitis. Im selben Jahr auch noch Prostatakrebs. 

Jetzt, fünf Jahre später, steht er vor dem Centro Sociale Onsernonese (CSO) in Russo im Tessiner Onsernonetal. Eine imposante Erscheinung, gross, bärtig, um den Hals ein rotes Stethoskop. Erich, einer der Bewohner, rollt im Rollstuhl heran. Ob er ihn kurz stören dürfe, fragt er. «Du störst nie», erwidert Savary-Borioli freundlich. 

Alle paar Meter wird er im Centro angehalten. Vom Pflegepersonal, von den Bewohnenden. Oft klingelt auch sein Handy – dann erklingt «Die Internationale». Eigentlich ist er fast immer in Bewegung. Abgesehen von den grauen Haaren und den tiefen Furchen zwischen den Augenbrauen deutet nichts darauf hin, dass er 73 Jahre alt ist. 

Rückkehr aus dem Ruhestand

Seit zwei Jahren ist er jetzt wieder zurück im CSO, einem Alters- und Pflegeheim mit medizinischem Ambulatorium und Physiotherapieabteilung, das er 1983 mitbegründet hat. Drei Jahre nach Stellenantritt hatte das Ärztepaar gekündigt. Auf die erneut ausgeschriebene Hausarztstelle meldete sich niemand. Und ohne Arzt, kein Centro. 

Also musste Savary-Borioli zurückkehren, zumindest vorübergehend. In der Schweiz ist er damit kein Einzelfall. Immer mehr Ärztinnen und Ärzte arbeiten auch nach dem offiziellen Pensionsalter weiter. Laut neuen Zahlen des Verbands der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) sind 12,6 Prozent der praktizierenden Mediziner 65 Jahre oder älter. 

Savary-Borioli ist nicht einfach irgendein Arzt. Er ist der Arzt hier im Onsernonetal. Genauer gesagt: Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, spezialisiert auf Notfall- und Katastrophenmedizin. 

Die Liste der Funktionen, die er einmal bekleidete, ist lang: Unter anderem war er Präsident der medizinischen Kommission des Verbands der Tessiner Ambulanzdienste, Rega-Not- und Bergrettungsarzt und Präsident der medizinischen Kommission der Rega.

Über 40 Jahre im Tal

«Un’istituzione» sei er, eine Institution also. Das sagen zumindest alle hier, die man nach ihm fragt. Aber auch: dass er einen langen Schatten habe. 

Wem kann es also gelingen, aus diesem herauszutreten?

Denn «Beppe», wie ihn hier alle nennen, hat über die Hälfte seines Lebens im Onsernonetal verbracht. Er kennt hier alle – zumindest die, die schon immer hier wohnen – und spricht den Dialekt. 1973 war er zum ersten Mal im Tal, auf Durchreise Richtung Centovalli. Aus dem Postauto sah er den Ponte Oscuro, die imposante y-förmige Brücke, die das Vergeletto- und das Onsernonetal verbindet. Ein Anblick, der ihn nicht mehr losliess.

Zehn Jahre später wurde im Tal eine Hausarztstelle ausgeschrieben. Er bewarb sich – und bekam sie. Dabei hätte er, aufgewachsen im St. Galler Rheintal, auch die Praxis seines Vaters übernehmen können, der ebenfalls Arzt war. Doch die Berge wären dort zu weit weg gewesen. Und: «Das wilde Tal hat mich gereizt», sagt er.

Heute leben noch rund 700 Menschen in diesem abgelegenen Bergtal zwischen dem Centovalli und dem Maggiatal. Von Locarno aus schlängelt sich die kurvenreiche Strasse hinauf auf knapp 1000 Meter – fast bis zur italienischen Grenze. Früher wurde an den steilen Hängen Roggen angebaut, der für die Strohflechterei genutzt wurde. Heute gehört das Onsernonetal zu den ärmsten Regionen des Tessins.

Es ist still hier. Nur gelegentlich durchbricht das «Düdado» des Postautos die Ruhe. Tief unten tost der Isorno durch die Schlucht.

Freund von Max Frisch

Auch die Geschichte des Tals hat Savary-Borioli fasziniert. Etwa, dass die Gemeinde Mosogno 1872 den russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814–1876) zum Bürger ernannte, um seine Ausschaffung aus der Schweiz zu verhindern. Immer wieder diente das Tal als Rückzugsort: etwa für den Fotografen René Burri (1933–2014) – eines seiner Che-Guevara-Porträts hängt in Savary-Boriolis Büro – oder für Max Frisch (1911–1991), den Savary-Boriolis Töchter «Nonno Max» nannten und mit dem er lange Gespräche über das Sterben und den Tod führte.

Im Centro Sociale, neben dem Eingang des Ambulatoriums, hängt eine Kinderzeichnung, ein Geschenk. Darauf zu sehen ist das Tal. In der Mitte: ein weisser Golf. Sein früheres Notarzteinsatzfahrzeug, mit dem er einst durch die Dörfer fuhr. «Wenn ich kam, läuteten die Kirchenglocken – als Zeichen. Dann kamen die Frauen aus ihren Häusern und die Männer aus der Osteria.» 

Je länger er mit den Patientinnen und Patienten sprechen konnte, desto weniger Medikamente musste er ihnen verschreiben. «Man hat schnell gemerkt, dass es ihnen vor allem ums Reden ging», sagt Savary-Borioli. 

So viel unterwegs wie früher ist er nicht mehr. Hausbesuche sind seltener geworden. Viele, denen es schlecht geht, leben inzwischen im Centro, das auch Palliativ-Pflege für Langzeitpatienten anbietet.

Viele aus dem Tal sind in den letzten 40 Jahren aber auch gestorben. Savary-Borioli hält mit weitem Abstand den inoffiziellen Rekord: Kein anderer Arzt im Tessin hat mehr Totenscheine ausgestellt als er. Die geschätzte Zahl: über 2000.

Denn wenn es ums Sterben geht, hat er den Bewohnerinnen und Bewohnern ein Versprechen abgegeben: «Wenn es so weit ist, schicke ich dich nicht noch ins Spital.»

Lange Gespräche, viel Zeit

Das Gespräch, das Zuhören – das sei geblieben. Eine schöne Form von Medizin, sagt er. Und auch: «In diesem Tal gibt es Zeit.» Etwas, wovon die Kolleginnen und Kollegen in der Stadt nur träumen könnten.

Trotzdem: Wie viele abgelegene Regionen kämpft auch das Onsernonetal mit Abwanderung – und mit dem Mangel an Hausärztinnen und Hausärzten.

Wer also soll Savary-Borioli ersetzen?

Das CSO arbeitet mittlerweile mit dem Spital in Locarno zusammen. Dieses schickt Assistenzärztinnen und Assistenzärzte ins Centro, wo sie sich weiterbilden. Bei einem jungen Arzt war die Hoffnung gross, dass er den Bergarzt-Posten übernehmen würde. «Es hätte alles gepasst», sagt Savary-Borioli. Der junge Arzt sei sehr kompetent gewesen. Und das Wichtigste: Die Menschen im Tal hätten ihn sehr gemocht, ihm vertraut. Geklappt habe es dann nicht, weil er mit einem Freund eine Praxis im Maggiatal eröffnen wollte.

Also zurück auf Feld eins. Zurzeit ist wieder eine Assistenzärztin aus Locarno am CSO. Es könnte sein, dass sie übernehmen wird. Sicher ist es aber noch nicht. Savary-Borioli ist hoffnungsvoll.

Lange Zeit galt die Hausarztpraxis für viele junge Medizinerinnen als wenig attraktiv – die meisten strebten eine Karriere im Spital an oder wollten Spezialarzt werden. Aber seit kurzem, so glaubt Savary-Borioli, sei ein Wandel zu spüren: «Die Jüngeren wollen wieder Hausärztinnen werden, wegen des direkten Kontakts zu den Menschen.»

Seiner Frau hat er versprochen, höchstens noch anderthalb Jahre weiterzumachen. «Bis dahin sollte es schon noch gelingen, jemanden zu finden.»

Hier zu arbeiten, «das muss man wirklich wollen», sagt Savary-Borioli. Und die Leute, die müsse man mögen. Aber auch: Wer würde nicht hier arbeiten wollen – in diesem wunderschönen Tal? Klar: «Reich wird man hier nicht. Aber man kann gut leben. Und die Medizin hier ist wirklich schön – persönlich, menschlich.»

Einer der Bewohner erzählt: «Beppe ist wie ein Nadelöhr, durch das alle durchmüssen.» Dass er wirklich einmal gehen wird, wirklich pensioniert sein wird – man kann es sich fast nicht vorstellen. 

Ganz weg sein wird er sowieso nicht. «Ich werde helfen, falls und wo es mich noch ab und zu brauchen mag.» Aber es sei Zeit. Er will jemand Jüngerem Platz machen.


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