Eine Szene, wie sie auch in Zürich, Paris oder New York stattfinden könnte: Félix Baumann sitzt in einer alten Industriehalle, in der sich hippe Restaurants angesiedelt haben, und trinkt einen Kaffee. Doch der 51-jährige Botschafter befindet sich in Kiew, der Hauptstadt der Ukraine. Dort herrscht seit Beginn der russischen Invasion vor bald zwei Jahren Krieg. «Die Einheimischen sind froh um ein Stück Normalität. Auch ich bin gerne zu einem Znacht hier.»
Dann erzählt der Schweizer Botschafter für die Ukraine und die Republik Moldau von den häufigen Luftalarmen. Die gibts via Sirenen oder Smartphone-App. Dann heisst das Gebot jeweils: den nächsten Schutzraum aufsuchen! «Die meisten Alarme kommen in der zweiten Nachthälfte. Dann ist man erst mal wach.»
Ohne Familie
Anfang Juni dieses Jahres hat der gebürtige Zürcher, der Internationale Beziehungen und Betriebswissenschaft studiert hat, seine Arbeit als Botschafter aufgenommen. Sein Amtssitz befindet sich in Kiew. Dort ist er Chef von 45 Angestellten, darunter 16 aus der Schweiz. Normalerweise bringt ein Botschafter Privates wie Möbel und Bilder mit. Weil die Ukraine im Krieg ist und eine allfällige Evakuation schnell passieren müsste, reiste Baumann mit nur zwei Koffern an.
Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.
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Ebenfalls auf Vorgabe seines Arbeitgebers, des Eidgenössischen Aussendepartements EDA, lebt Baumann ohne seine Familie in der sonst leeren Botschaftsresidenz. Dort bewohnt er eine möblierte Zweizimmerwohnung, kocht für sich allein. «Kiew ist eine faszinierende Stadt.» 150 Schweizer leben im Land.
Im holpernden Nachtzug gehts für Félix Baumann nach Charkiw. Die Fahrt in die ostukrainische Grossstadt dauert sieben Stunden. An Frieden ist hier, rund 35 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, noch lange nicht zu denken, immer wieder kommt es zu russischen Angriffen. Baumann trifft lokale Vertreter der von der Eidgenossenschaft unterstützten Schweizer Minenräumungs-Stiftung FSD (Fondation Suisse de Déminage).
Kunstliebhaber auch in Kiregeszeiten
Seit 2015 hilft sie in der Ukraine bei der humanitären Minenräumung. Viele Millionen Minen liegen noch im ganzen Land, 30 Prozent der Landesfläche sind es konkret. Nächste Station: ein unterirdischer Schutzraum eines Schulhauses in Charkiw. Dieser ist zum Klassenzimmer umfunktioniert worden. An diesem Vormittag findet hier unten die Präsentation eines lokalen FSD-Teams statt. Es erklärt den Schülern, welche Minenarten in ihrer Umgebung vorkommen. Ein Video zeigt die verheerende Wirkung: Die Kinder schauen stumm und entgeistert.
Er habe einen ruhigen und ausgeglichenen Charakter, sagt Félix Baumann, «ich kann solche Ängste aushalten. Die Kontrolle des Risikos für mich und meine Mitarbeitenden hat oberste Priorität». In der Freizeit steht Jogging auf dem Programm. Vor kurzem besuchte er an der lokalen Oper das Ballett «Giselle», an einem anderen Abend eine Jam-Session einheimischer Jazzmusiker.
Zwischen Mitternacht und 5 Uhr morgens ist Ausgangssperre. Auf dem Nachttisch des Kunstbuchliebhabers liegt «La guerre des mondes», Bruno Tertrais' Buch über die aktuelle Geopolitik. «Ich habe die grosse Chance, eine kleine Rolle zu spielen bei der Unterstützung, die die Schweiz diesem Land gibt», sagt Baumann.
Die Schweiz hilft vor Ort
Seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 hat die Eidgenossenschaft der Ukraine vor Ort mit 400 Millionen Franken geholfen. Seit 25 Jahren leistet der Bund in der Ukraine Entwicklungshilfe. Seit Kriegsbeginn unterstützt er das Land auch im humanitären Bereich, zum Beispiel bei der Wiederherstellung der zerstörten Energie-Infrastruktur. Die Schweiz stellt Ambulanzen und medizinische Ausrüstung zur Verfügung. «Wir helfen, wo wir können und gebraucht werden», sagt Baumann. Er ist regelmässig im Land unterwegs, spricht mit lokalen Behördenvertretern und anderen vom Krieg betroffenen Personen. «Das zeigt mir deren Bedürfnisse.»
Ein eisiger Wind weht, es sind minus sechs Grad. Félix Baumann steigt in den gepanzerten Dienstwagen ein. Dieser rauscht an einem von Raketen zerstörten Plattenbau vorbei. Im Auto studiert der Botschafter Unterlagen für seinen nächsten Projektbesuch. In Ruska Lozowa steigt er aus. Dutzende Häuser im ostukrainischen Dorf nahe der Grenze zu Russland sind von der russischen Armee im Februar 2022 zerstört oder schwer beschädigt, viele Bewohner getötet worden.
«Hier, direkt vor unserer Haustüre, hat das Geschoss eingeschlagen. Zum Glück waren wir nicht zu Hause», erzählt die 70-jährige Liubow Bucholdina dem Gast. Der Schweizer Botschafter für die Ukraine ist auf einer Dienstreise vorbeigekommen – um sich ein Bild zu machen von den Reparaturarbeiten, die mit Bundesgeldern ausgeführt werden. Liubows Ehemann Mykola, 75, nimmt den Gast in seine Arme. «Dank euch haben wir wieder ein Dach über dem Kopf! So können wir Weihnachten endlich wieder an der Wärme feiern.»
Weihnachten in der Schweiz
Bei seinem kürzlichen Besuch sicherte Bundespräsident Alain Berset seinem ukrainischen Amtskollegen die Solidarität und langfristige Unterstützung der Schweiz zu. Vor kurzem hat der Bundesrat 100 Millionen Franken für humanitäre Minenräumung in der Ukraine gesprochen, für weitere vier Jahre. Selenski war voll des Lobes.
Nach seinen Weihnachtsferien in der Schweiz hat Botschafter Baumann einen Plan für das WEF in Davos. Er will Schweizer Unternehmer durch ukrainische Regierungsvertreter darüber informieren lassen, was die Ukraine für den Wiederaufbau braucht. Die Schweiz engagiere sich auch mit Projekten in den Bereichen Frieden und Menschenrechte. Zum Beispiel bei Selenskis Initiative «Peace Formula»: Dabei geht es darum, die Grundlagen für einen gerechten und dauernden Frieden zu schaffen.
Zurück in Kiew. «Der Friede liegt wohl noch in weiter Ferne», sagt Félix Baumann am Abend, als er Marc Wilkins, 47, besucht. Der nach Kiew ausgewanderte Berner ist Mitgründer der Kunstgalerie The Naked Room. Der Filmregisseur sagt: «Ich habe aufgehört, zu fragen, wann der Friede kommt, ich wurde immer wieder enttäuscht. Das kostete mich zu viel Energie.» Auch wenn er skeptisch ist: Félix Baumann wünscht der Ukraine, dass es bald Frieden gibt. «Das ist im Interesse der Schweiz und von ganz Europa. Doch es obliegt der Ukraine, zu entscheiden, wann dafür der richtige Zeitpunkt gekommen ist.»