Trumps Influencer Charlie Kirk erschossen
Der Atlantik wird breiter

Wo Kugeln Argumente ersetzen: Amerika wird uns fremder. Für die Schweiz ist die Entwicklung in den USA eine Mahnung.
Publiziert: 16:32 Uhr
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Aktualisiert: 16:56 Uhr
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Fremde «Sister Republic»: Die Skyline von Brooklyn und der Blutmond.
Foto: Getty Images
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Ein Blick ins Archiv sagt viel über die Gegenwart aus. Vor fünf Jahren versetzte die sogenannte Crypto-Affäre die Schweizer Öffentlichkeit in Schnappatmung. Eine Produktionsfirma von Chiffriermaschinen arbeitete heimlich mit den US-amerikanischen Geheimdiensten zusammen.

Die Sache wurde von den Journalisten zum Superskandal heraufbeschworen. Heute wirkt das lächerlich. Die Story ist längst vergessen. Was einen guten Grund hat – die 2018 aufgelöste Firma bestand in einer Epoche, die mittlerweile weit weg scheint. Es war eine Zeit, in der die Schweiz trotz ihrer Neutralität Puzzlestück eines unbestrittenen Weltteils namens Westen war. Das Herz des Westens schlug jenseits des Atlantiks. Die Vereinigten Staaten von Amerika befreiten Europa von Hitler und Asien vom japanischen Imperialismus. Amerika war fortan ein Synonym für Freiheit: freie Rede, freie Märkte, freies Leben. «We’re all living in Amerika. Amerika ist wunderbar», sang der Frontmann der deutschen Band Rammstein 2004. Die Zeilen waren in Ironie verpackte Wahrheit.

Verrohung der politischen Kultur

Heute ist das Herz des Westens krank. In einer pulsierenden Penetranz der ständigen politischen Tabubrüche kippt die US-Demokratie in einen brenzligen Zustand. Schusswaffen haben in einer politischen Auseinandersetzung nichts zu suchen; das gilt als Grundkonsens in den offenen Gesellschaften. Und doch knallt es in den USA immer wieder. Die letzten aufsehenerregenden Beispiele: Der Attentatsversuch auf Donald Trump im Juli 2024. Die Erschiessung des Versicherungschefs Brian Thompson im Dezember 2024. Die Ermordung der demokratischen Politikerin Melissa Hortman und ihres Ehemanns im Juni in Minnesota. Und jetzt der tödliche Anschlag auf den MAGA-Influencer Charlie Kirk.

Solche Ereignisse sind die giftigen Früchte einer Verrohung der politischen Kultur, einer inneren Zersetzung im Freiheitsgefüge der wichtigsten Demokratie der Welt. Die Floskel vom gespaltenen Land trifft in der 340 Millionen Einwohner zählenden Supermacht leider immer stärker zu. Die Öffentlichkeit – zumindest die, die bis hierher wahrgenommen wird – ist von einer Abgrenzungsrhetorik geprägt, in der der politische Gegner zum Landesverräter gestempelt wird, zum geistig Minderbemittelten, zum moralischen Unmenschen oder zum Kriminellen. Ein Fanal dieser Entwicklung war die unverhohlene Gefängnisforderung für Hillary Clinton von Donald Trumps Anhängern im Wahlkampf 2016 («Lock her up!»).

Woke Auswüchse und «Book Ban»

Auf der anderen Seite radikalisiert sich eine progressive Szene an den Universitäten, die schleichend die demokratische Partei einzuvernehmen begann. Die Überwindung der Rassentrennung ist die Jahrhundertleistung der amerikanischen Gesellschaft; die woken Auswüchse von heute sind ihre moralinsaure Farce. Der identitätspolitischen «Cancel Culture» auf der linken Seite steht ein ebenso beunruhigender konservativer «Book Ban» gegenüber. Der US-Autorenverband PEN America zählt über 16'000 verbotene Bücher an Schulen und in der Öffentlichkeit. Man erinnert sich an die Ära unter dem Kommunistenjäger Joseph McCarthy in den 50er-Jahren.

All das geschieht in einer Bevölkerung, von der 81 Millionen Leute eine Waffe besitzen. Der grausam ermordete Charlie Kirk war notabene ein glühender Verfechter des «Second Amendment» in der Verfassung, des Anspruchs auf Waffenbesitz als «gottgegebenes Recht». Er sagte: «Wenn unser Wohlstand, unsere Sportveranstaltungen und unsere Flugzeuge von Bewaffneten bewacht werden, warum gilt das nicht auch für unsere Kinder?» Vielleicht muss man Amerikaner sein, um so einen Satz verstehen zu können. Kirk mag ein Mann des demokratischen Wettkampfs der Argumente gewesen sein – aber er verkörperte auch die verbale und nonverbale Aufrüstung, in der uns die USA ein paar zweifelhafte Schritte voraus sind.

Die Vorgänge in den USA sollten der Schweiz eine Mahnung sein. Noch werden hierzulande keine Andersdenkenden abgeknallt. Aber die verbale Gewaltspirale dreht sich auch hier. Ob Europa, Zollstreit oder Asylpolitik: Die Debatten werden zunehmend gehässiger ausgetragen, Politiker und Politikerinnen spielen auf den Mann und werden dafür mit einer grösseren medialen Aufmerksamkeit belohnt.

Die Werte des Westens

Je mehr sich Amerika entfremdet, desto mehr muss sich Europa und die Schweiz ihrer Stärke bewusst sein: die freie Auseinandersetzung mit Worten. Der Respekt und die Toleranz vor anderen Ansichten. Das sind die Werte des Westens, zu dem die Schweiz noch immer gehört.

Was wäre der Westen ohne die USA? Gäbe es ihn ohne die USA überhaupt? Natürlich gehört auch Amerika noch zum Westen. Es verändert sich jedoch in beunruhigender Art. Der Atlantik ist breiter geworden.

Im Rammstein-Song «Amerika» heisst es: «Nach Afrika kommt Santa Claus und vor Paris steht Micky Maus.» Eurodisney existiert noch immer. Aber unter Donald Trump sind die USA ein Land geworden, das fremder geworden ist. Fremder jedenfalls als zu Zeiten der Crypto AG.

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