Darum gehts
- Tempo 30 reduziert Stress und erhöht die Attraktivität der Nachbarschaft
- Fussgängerfreundliche Städte wirken Isolationsstress entgegen und fördern soziales Leben
- Schizophrenierisiko verdoppelt sich bei Stadtbewohnern, Depressionsrisiko ist 1,5-mal höher
Bremst Tempo 30 die Schweiz aus? Die Geschwindigkeitslimite polarisiert seit Jahren. Im September folgte der Bundesrat einem Parlamentsentscheid. Er will die Tempo-30-Entwicklung ausbremsen. Sinnvoll? Der renommierte deutsche Stressforscher und Psychiater Mazda Adli (55) schüttelt im Blick-Interview den Kopf.
Blick: Die Schweiz diskutiert vielerorts über Tempo 30. In den Städten, aber auch in den Gemeinden. Reduziert Tempo 30 den Stress?
Mazda Adli: Ja. Tempo 30 erhöht die Attraktivität einer Nachbarschaft für Fussgänger und Radfahrer. Auch wenn das für die Autofahrer mitunter nervig ist, profitieren schlussendlich mehr Menschen davon, weil solche Zonen leichter zu Verweilzonen werden, die wiederum sozialer Isolation entgegenwirken. Dazu kommt: Tempo 30 führt zu sauberer Luft und weniger Feinstaubbelastung. Das ist auch für unsere Psyche entscheidend. Denn Feinstaub schwächt unsere stressregulierenden Systeme im Gehirn. Ausserdem gehört Verkehrslärm zu den Stresstreibern in der Stadt. Tempo 30 reduziert den Strassenlärm signifikant.
Ich höre die rot-grüne Politik: mehr Grün, weniger Auto. Wollen Sie das unterstreichen?
Eins vorneweg: Ich forsche aus Liebe zur Stadt und nicht mit einem politischen Kompass. Man kann auch Grünflächen um Parkplätze bauen. In der Tat ist die fussgängerfreundliche Stadt ein kontroverses Thema, aber wissenschaftlich können wir klar sagen: Fussgängerfreundliche Städte sind gut für unsere Psyche, weil sie dazu stimulieren, vor die eigene Haustür zu treten. Und Zeit vor der eigenen Haustüre ist eher soziale Zeit, die wiederum Isolationsstress entgegenwirkt.
Sie sagen, liebe Schweizerinnen und Schweizer, macht Tempo 30 überall, wo möglich.
Macht Tempo 30 dort, wo soziales Leben Priorität hat. Mit kluger Stadtplanung kann es auch weiterhin Strassen geben, auf denen man schneller vorankommt. Niemand will die Menschen wütend machen. Aber wer sich die medizinische und neurowissenschaftliche Datenlage anschaut, kommt einfach nicht darum, zu sagen: Tempo 30 tut unserer Psyche sehr gut. Und wenn man das versteht, fällt es auch leichter, Tempo 30 zu akzeptieren.
Sie kommen aus Berlin und forschen dort. Dass es den Grossstadt-Stress gibt, ist klar. Aber in der Schweiz?
Die Art, wie wir leben und wo wir leben, zahlt auf unser Stresskonto ein. Das gilt überall auf der Welt. Wo und unter welchen Bedingungen Stress entsteht, kann regional und kulturell unterschiedlich sein. Aber die Grundprinzipien sind universell. Sie gelten in Berlin genauso wie in Zürich, Basel oder Genf. Stadtstress entsteht überall dort, wo Menschen auf engem Raum zusammenleben.
Wo entsteht wann Stress?
In den Städten ist es betriebsamer, enger, dichter, lauter, manchmal auch schmutziger. Der Verkehr staut sich, wir kommen nicht so voran, wie wir wollen. Es gibt also viele Gründe, immer wieder Stressspitzen im städtischen Alltag zu erleben. So sind unsere Städte nun einmal. Dieser Stress nervt, macht uns aber in den meisten Fällen nicht gleich krank. Gesundheitsschädigend ist vor allem dauerhafter sozialer Stress.
Über 70 Prozent der Schweizer Bevölkerung lebt im urbanen Gebiet. Wann entsteht dieser krankmachende Stadt-Stress?
Sozialer Stress entsteht überall dort, wo Menschen auf begrenztem Raum zusammenleben oder zusammen arbeiten und Probleme oder Konflikte auftreten können. In Städten geschieht das besonders häufig. Zwei wichtige Unterformen von sozialem Stress sind der Dichtestress und der Isolationsstress. In der Neurourbanistik, einem Forschungsgebiet zwischen Medizin, Neurowissenschaften und Stadtforschung, versuchen wir den Stadtstress genauer zu untersuchen.
Die Folge von Stadtstress kann ein erhöhtes Risiko für Depression, Schizophrenie oder Angsterkrankungen sein.
Das Schizophrenierisiko verdoppelt sich, wenn man in der Stadt lebt, und verdreifacht sich nahezu, wenn man dort auch aufgewachsen ist. Das Depressionsrisiko ist bei Stadtbewohnern eineinhalb mal höher. Auch Angststörungen sind häufiger. Gleichzeitig gilt: Unsere Welt urbanisiert sich rasant. Um das Jahr 1950 lebte gerade mal ein Drittel der Weltbevölkerung in einer Stadt. Im Jahr 2050 werden es fast 70 Prozent sein. Daher besteht Handlungsbedarf. Wir müssen dringend verstehen, wie wir Städte so gestalten können, dass sie unserer Psyche zuträglich sind.
Die Schweizer Städte sind gut an Naherholungsgebiete angeschlossen. Hilft das?
Die Schweiz ist gesegnet mit einer einzigartigen Natur, die auch aus der Stadt gut und schnell erreichbar ist. Aber auch hier gibt es Stadtstress. Einen positiven Einfluss auf die Psyche haben Grünflächen. Sie wirken stressprotektiv. Das heisst nicht, dass alle einen eigenen Garten brauchen. Unsere Forschung zeigt: Auch Grünflächen in eineinhalb Kilometern Entfernung wirken sich noch positiv auf stressregulierende Hirnaktivität aus. Aber es gibt auch Anlass zur Sorge.
Wieso?
Weil wir neben Grünflächen auch genug nicht kommerziell genutzten öffentlichen Raum für unsere psychische Gesundheit brauchen. Das sind Orte, an denen soziales Leben entsteht. Aber solche Räume werden in unseren Städten immer kleiner. Mir ist natürlich klar: Wir müssen unseren urbanen Lebensraum verdichten, weil wir auch genug Wohnraum brauchen. Aber das geht oft auf Kosten von öffentlichem Raum. Übrigens gehören auch Kulturräume zu solchen Orten mit Gesundheitswirkung. Dazu gehören Museen, Theater, Kulturzentren und vieles mehr. Sie wirken Isolationsstress entgegen. Hier braucht jede Stadt, ob in der Schweiz, in Japan oder Deutschland, die richtige Balance.