«Es ist einfach nicht mehr zum Aushalten»
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Irene Morgenthaler:«Es ist einfach nicht mehr zum Aushalten»

Panzerlärm im Wohnquartier – Schweizer Militär bricht Gesetz
«Die Armee ballert mir noch das Gehör weg»

Beim Thuner Quartier Allmendingen donnern Panzer vorbei, knattern Maschinengewehre – und die Nerven der Anwohner liegen blank. Seit Jahren müsste die Armee den Lärm senken. Jetzt wollen sich Betroffene wehren.
Publiziert: 20:00 Uhr
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Aktualisiert: 20:06 Uhr
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Irene Morgenthaler und Piero Catani sind verärgert.
Foto: Raphaël Dupain

Darum gehts

  • Lärmbelastung durch Waffenplatz Thun: Anwohner wollen sich gegen Armee wehren
  • Armee verstösst gegen Lärmschutzverordnung, Sanierungsfrist nicht eingehalten
  • Bei 60 Liegenschaften im Quartier Allmendingen sind Grenzwerte deutlich überschreiten
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Robin BäniRedaktor

Es knallt, ein Sturmgewehr bricht los. Irgendwo ertönt ein Echo. Dann ein zweiter Schuss, ein dritter – eine ganze Salve rattert durchs Wohngebiet. «Das höre ich gar nicht mehr», sagt Irene Morgenthaler (77). Die Anwohnerin lebt im Thuner Quartier Allmendingen – und ist sich Krasseres gewohnt. «Wenn ich Besuch habe, fragen mich die Leute manchmal, ob ich in einem Kriegsgebiet wohne.» Sie sagt das ironiefrei.

Von ihrem Haus sind es 200 Meter, bis die Panzerpiste von Thun BE beginnt, der grösste Waffenplatz der Schweiz. Hier donnern Leopard 2 über das Gelände, hier üben Rekruten den Krieg. In der kleinen Schweiz ballert der Pänzeler hinter dem Hüslibesitzer in den Zielhang. Konflikte sind da vorprogrammiert, wobei jener in Thun schon seit Jahren schwelt – und nun endgültig zu eskalieren droht.

Fragt man die Leute in Allmendingen, seit wann hier geschossen wird, lautet die Antwort: seit es Panzer und Gewehre gibt. Grundsätzlich hätten sie auch nichts dagegen, sagt Piero Catani (66), der hier seit 36 Jahren lebt. Als Präsident des Quartiervereins vertritt er die Anwohner. Dass die Armee üben müsse, sei klar. «Aber sie schiessen immer intensiver und gröber.» Jahrelang hätten sie den Lärm toleriert. Doch jetzt, sagt der Präsident, sei «gnue Heu dunne». Jetzt wollen sie sich wehren.

Lärmsanierung: Nef (Nicht erfüllt)

Für das Verteidigungsdepartement (VBS) könnte es ungemütlich werden. Die Panzerpiste in Thun ist eine von 46 Schiessanlagen, die das VBS hätte lärmsanieren müssen. Zehn Jahre hatten die Verantwortlichen Zeit. Gemäss Lärmschutzverordnung sollten alle Massnahmen bis zum 31. Juli 2025 umgesetzt sein. Sollten. Denn die wenigsten Anlagen sind umgebaut. Nur vier Schiessplätze gelten als «saniert» – zwei davon als ungenügend, sodass die Grenzwerte weiterhin überschritten werden.

Zuständig für die Lärmsanierungen ist Armasuisse, das Bundesamt für Rüstung. Es verwaltet sämtliche Waffenplätze. Auf Anfrage heisst es, die Frist habe aufgrund «dynamischer Nutzungsänderungen» nicht eingehalten werden können. Zudem sei die Lärmbeurteilung komplex und aufwendig, besonders in dicht besiedelten Gebieten, da «zahlreiche Massnahmen auf ihre Verhältnismässigkeit» zu prüfen seien.

Die Armee verstösst bei über 40 Anlagen gegen das Gesetz. Lärmbetroffene könnten daher versucht sein, gegen die Verantwortlichen vorzugehen. Wie viele Lärmreklamationen bisher eingegangen seien, lasse sich schwer beziffern, schreibt die Armee auf Anfrage. In der Regel würden diese von den «Schiessplatzverantwortlichen» beantwortet. Die Armee hat also keine Übersicht. Ohnehin dürften viele Klagen noch vorbereitet und eingereicht werden, da die Sanierungsfrist erst kürzlich abgelaufen ist. Dem Verteidigungsdepartement droht eine Klagewelle.

«Vom Militär veräppelt»

Auch Catani will eine Taskforce gründen, im Quartier alle Optionen prüfen, juristische Schritte abklären. «Die jetzige Situation ist komplett unbefriedigend», sagt der Allmendinger Quartierpräsident. «Ich fühle mich nicht ernst genommen.» Nachbarin Morgenthaler sagt es so: «Ich fühle mich vom Militär veräppelt.»

Im Haus sei der Lärm «einigermassen ertragbar», so Morgenthaler. Im Garten aber, wenn sie auf ihre Pflanzen schaue, bekomme sie «ä Härzbaragge bi däm huere Chlapf», wie man auf gut Berndeutsch sage. Vor allem das Geballer in den Schiessboxen sei schrecklich, aber auch das Maschinengewehr des Schützenpanzers 2000 habe einen giftigen Ton – grell, peitschend, unbeschreiblich laut. «Die Armee ballert mir noch das Gehör weg.»

Bei Catanis Wohnung knallen die Panzerrohre am lautesten. Besonders stört ihn der Schützenpanzer 2000. Dieser hat keinen Einsatzlauf, anders als der Leopard 2, und kann deshalb nur grosse Kaliber verballern. «Der erste Schuss kommt jeweils wie ein Überschallknall daher», erzählt Catani. «Ich erschrecke jedes Mal.» Danach wisse er wenigstens, dass weitere Projektile folgen. Irgendwann herrsche dann Ruhe, und man denke, es sei vorbei. Bis es plötzlich von vorne losgeht. «Nervenaufreibend.»

Mehr Pänzeler, mehr Lärm

Morgenthaler ist vor 46 Jahren nach Allmendingen gezogen. «Ich war nicht blauäugig», sagt sie bestimmt. Ihr sei bewusst gewesen, dass hier die Armee trainiere. Aber früher hätten sie nur dienstags und donnerstags geschossen – und das eher selten. Heute, wenn die Rekrutenschule beginne, «ballern sie drei bis vier Wochen durch». Von acht Uhr morgens bis mittags, dann Pause, und weiter bis abends um sechs, manchmal bis zehn, teils mit Nachtübungen. «Bei dem Dauergeballer gehe ich auf dem Zahnfleisch, drehe im roten Bereich.» Am Abend könne sie nicht einschlafen, benötige Beruhigungstropfen.

Die Armee bestätigt die Lärmzunahme. Die Grundausbildung in den Rekruten- und Kaderschulen sowie in den Wiederholungskursen werde «konsequent auf die Verteidigungsfähigkeit» ausgerichtet. Das heisst: Die Armee schiesst öfter. Zudem wächst der Waffenplatz Thun, da Truppen von anderen Standorten verlegt werden. Der grösste Waffenplatz der Schweiz wird immer grösser. Weitere 100 Millionen will die Armee in den Ausbau investieren. Und mehr Soldaten heisst mehr Krach.

Schuld tragen aber nicht allein die Pänzeler. Es gibt noch die Förster. Ein kleiner Wald trennt Wohngebiet und Waffenplatz, der sogenannte Auwald, eine Art Pufferzone. Dieses schalldämpfende Stück Land gehört dem Kanton Bern. Und besagter Kanton hat vor ein paar Jahren seine Förster losgeschickt, um Schneisen in den Auwald zu schlagen. Der Schiesslärm habe sich dadurch weiter verschlimmert, heisst es im Quartier.

Weniger Bäume, weniger Schutz

Auf Anfrage rechtfertigt sich der kantonale Staatsforstbetrieb. Solche Massnahmen seien nötig, um Jungwuchs zu fördern, sodass der Wald «seine vielfältigen Funktionen» erfüllen könne. Die nächsten Arbeiten seien für November 2025 vorgesehen, heisst es weiter. Mit einer Forstmaschine sollen «gezielt einzelne grössere Bäume» entnommen werden. Damit entstehe «mehr Licht und Platz», die Voraussetzung für einen «stufig aufgebauten Wald», der «optimal vor Lärmeinwirkungen» schütze. Die Allmendinger dürften sich freuen.

Dabei hoffen die Menschen hier schon lange auf etwas Ruhe. 2021 gab es einen runden Tisch – mit Vertretern von Armasuisse, dem Kommandanten des Waffenplatzes und mehreren Anwohnern. Man habe ihnen versprochen, einen Bericht über die Lärmemissionen auszuarbeiten, darauf basierend Massnahmen zu planen und diese bis Ende Juli 2025 umzusetzen, erzählt Catani. «Bis heute ist nichts umgesetzt.» In all den Jahren, in denen er nachgefragt habe, hätten sie ihn vertröstet.

Einen ersten Showdown gab es vergangene Woche, als sich die Allmendinger auf dem Waffenplatz versammelten. Der Kommandant hatte sie gerufen, um über die Resultate der Lärmmessungen zu informieren: In Allmendingen sind die Grenzwerte bei 60 Liegenschaften «deutlich überschritten». Betroffen sind auch 30 Gebäude in Thierachern BE, einer benachbarten Gemeinde.

Neue Fenster als Trostpflaster

An der Veranstaltung hat Quartierpräsident Catani erfahren, dass seine Wohnung in einer orangen Zone liegt. Das Haus von Morgenthaler befindet sich im tiefroten Bereich. Wie viele Dezibel überschritten werden, haben die Allmendinger allerdings nicht erfahren. «Die Armee hat uns keinen Bericht vorgelegt», sagt Catani frustriert. Armasuisse teilt mit, dass der Bericht «noch nicht komplett abgeschlossen» sei. Voraussichtlich 2026 soll er öffentlich aufliegen.

Seit Jahren wünschen sich die Anwohner eine Lärmschutzwand oder einen Erdwall. Dies würde allerdings nur zu einer «sehr geringen, kaum wahrnehmbaren» Lärmreduktion führen, teilte die Armee an der Veranstaltung mit. Catani sagt, er wüsste gerne konkreter, wieso das wenig bringen soll. Aber: «Ich bekomme keine Antwort. Wir müssen ihnen einfach glauben.» Gegenüber Blick schreibt Armasuisse, man wolle nun aufgrund der Rückmeldungen der Anwohner «prüfen», ob ein Lärmschutzdamm in unmittelbarer Nähe des Quartiers effektiv den Schiesslärm senke.

Als Trostpflaster will die Armee «voraussichtlich» ab 2028 Lärmschutzfenster spendieren. Morgenthaler lacht, wenn sie das hört. «Fast alle hier haben längst neue Fenster – meine sind dreifach verglast.» Ausserdem wollen die Verantwortlichen eine Indoor-Schiessanlage prüfen. «Prüfen», bei dem Wort verdreht Catani die Augen. «Das höre ich seit Jahren.» Er glaube der Armee kein Wort mehr. «Das ist alles Hinhaltetaktik.» Bis wann eine solche Anlage realisiert sei, wenn überhaupt, dazu lasse sich derzeit nichts sagen, heisst es von Armasuisse.

Grenzwerte – Verschwindibus!

Das VBS aber «investiere viel, um Lärm zu vermeiden», schreibt das Rüstungsamt. Eine der wichtigsten Massnahmen sei der Einsatz von Simulatoren, zum Beispiel bei der Ausbildung der Fahrer schwerer Rad- und Raupenfahrzeuge. «Lärmbekämpfung» bleibe aber eine «dauernde Aufgabe», da Übungen in der realen Welt mit echten Mitteln «unverzichtbar» seien.

Es ist kein Geheimnis, dass die Armee lieber in neue Haubitzen investiert als in Lärmschutz. Die Militärkasse ist chronisch klamm, das Parlament will das Budget nur spärlich aufstocken – und währenddessen tobt im Osten ein Krieg, verschärft sich die Sicherheitslage in Europa fortschreitend. Der Ständerat will der Armee deshalb zu Hilfe eilen. Im vergangenen Herbst hat er ein Postulat an den Bundesrat überwiesen. Nun muss die Regierung prüfen, ob die Grenzwerte rund um Schiessplätze nicht einfach angehoben werden könnten.

Die Allmendinger macht das wütend. Jeder normale Bürger kassiere eine Busse, wenn er etwas falsch mache, so Catani. «Aber die Armee schert sich nicht um die Gesetze.» Dass die Politik nun ein Schlupfloch schaffen wolle, findet er beschämend.

Letztlich ist es David gegen Goliath. Fragt sich, weshalb Catani nicht einfach wegzieht. Das aber sei keine Option. «Was soll ich im Wohnungsinserat schreiben? Dass hinter dem Garten die Armee vorbeiballert?» Auch Morgenthaler will in ihrem Haus bleiben. Sie und ihr Mann hätten es selbst erbaut. Eines Tages gehe sie dann schon – aber nur ins Altersheim.

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