«Wir müssen denen nicht reinreden»
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ESAF-Besucher zu Umsieldungen:«Wir müssen denen nicht reinreden»

Oberste Berglerin der Schweiz antwortet auf Blick-Umfrage
«Die Idee, ganze Täler zu entleeren, ist zynisch»

Eine Blick-Umfrage zeigte, dass eine Mehrheit der Bevölkerung – vor allem im Unterland – Zwangsumsiedlungen in Bergregionen befürwortet. Die oberste Politikerin der Gebirgskantone erklärt, was das bedeuten würde.
Publiziert: 18.09.2025 um 18:25 Uhr
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Aktualisiert: 18.09.2025 um 20:20 Uhr
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Eine Umfrage zeigte Ende August, dass das Volk Bewohnerinnen und Bewohner gefährdeter Berggebiete umsiedeln würde.
Foto: Keystone
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Daniel Benz
Beobachter

Lawinen, Muren und Felsstürze: Die Menschen in den Alpen leben zunehmend gefährlich, weil der Klimawandel die Berge verändert. Im Mai lieferten die verheerenden Ereignisse in Blatten im Lötschental die letzte Bestätigung dafür, was wissenschaftliche Studien schon länger besagen. Damit rückt eine Frage stärker in den Fokus: Müssen exponierte Siedlungsgebiete in den Bergen aufgegeben werden?

Die Ende August veröffentlichten Ergebnisse einer im Blick publizierten Bevölkerungsumfrage lassen aufhorchen: Eine Mehrheit von 58 Prozent befürwortet Zwangsumsiedlungen. Sie ist dafür, dass Behörden Personen dazu zwingen können, ihren Wohnort zu verlassen, selbst wenn nur ein mittelfristiges Risiko für ein Naturereignis besteht. Besonders gross war die Zustimmung in den Städten und Agglomerationen im Unterland. 

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Wie kommt das an in den Berggebieten? Carmelia Maissen, Präsidentin der Regierungskonferenz der Gebirgskantone, nimmt gegenüber dem Beobachter Stellung.

Frau Maissen, gemäss der Umfrage befürwortet eine Mehrheit der Bevölkerung Zwangsumsiedlungen in Bergregionen. Überrascht Sie das?
Carmelia Maissen: Nicht unbedingt. Die Fragestellung ist ziemlich theoretisch und abstrakt, zudem ist die zeitliche und räumliche Betroffenheit der Befragten weit weg. Ich habe mich deshalb gefragt: Was hätten dieselben Personen geantwortet, wären sie gefragt worden, ob man Menschen über 70 zwingen sollte, aus den Städten wegzuziehen aufgrund des erhöhten Sterberisikos bei Hitzewellen? Real gesehen ist das eine viel grössere Gefahr. Da wäre die Antwort sicher anders ausgefallen.

Die stärkste Zustimmung für Zwangsumsiedlungen kommt aus dem Unterland. Was löst das bei Ihnen als Vertreterin der Bergkantone aus?
Die Sicht aus der Distanz auf das Leben in den Bergen ist eine andere als jene, wenn man mit der Natur und den damit verbundenen Gefahren aufgewachsen ist. Die Menschen in den Bergen müssen sich seit je an die sich verändernden Umweltbedingungen anpassen. Aber die Idee, ganze Täler zu entleeren, ist utopisch – um nicht zu sagen zynisch. Wer pflegt dann die Landschaft, die Schutzwälder, unterhält die Staumauern, die erneuerbaren Strom produzieren? Wer macht den Winterdienst auf den internationalen Transitachsen durch die Alpen? Vermeintlich einfache Lösungen helfen in dieser Diskussion nicht, es braucht eine differenzierte Betrachtung.

Die Städter würden sagen: Wir meinen es doch nur gut mit euch.
Daran zweifle ich auch nicht. Ich erkenne in solchen Meinungsäusserungen aber auch den gesellschaftlichen Trend respektive die Erwartungshaltung, dass der öffentliche Raum eine hundertprozentige Sicherheit zu bieten hat. Aber die gibt es nicht – nirgendwo.

Das Paradebeispiel einer Bedrohungslage ist Brienz/Brinzauls GR. Viele sagen: «Es ergibt doch keinen Sinn, an diesem Ort die Besiedlung um jeden Preis aufrechtzuerhalten.» Können Sie das nachvollziehen?
Wenn man sich die dortige Situation nur mit einem flüchtigen Blick anschaut, kann ich dies nachvollziehen. Doch das ist eine sehr verkürzte Sichtweise. Denn hier ist nicht nur eine isolierte Siedlung betroffen. Sondern es geht auch um kantonale respektive nationale Infrastrukturen: Eisenbahn, Strassen, Swissgrid-Leitungen. Zudem weisen alle getroffenen Massnahmen ein positives Kosten-Nutzen-Verhältnis auf – ein Aspekt, den es bei Schutzmassnahmen immer auch zu berücksichtigen gilt. Letztlich geht es auch um die Heimat von Menschen, die teilweise seit Generationen mit diesem Ort verbunden sind. Auch hier zeigt sich: Die Innenansicht ist komplexer als der Blick von aussen. 

Sind erzwungene Umsiedlungen für Sie demnach ein No-Go?
In bestimmten Situationen und lokal differenziert kann es sein, dass man zum Schluss kommt: Dieser Ort muss aufgegeben werden. Das ist nichts Neues. Ein Beispiel ist der Weiler Acla in der Val Medel, den man nach einem Lawinenunglück vor 50 Jahren nicht wieder aufgebaut hat. Man muss einfach sehen, dass eine Zwangsumsiedlung ein schwerer Eingriff ist, auch ins Eigentum der betroffenen Bevölkerung. Darum muss eine Behörde sehr gut begründen können, wieso sie zu diesem Entscheid kommt. Aber angesichts des Klimawandels und der zunehmenden Naturgefahren werden wir uns in Zukunft wohl mehr damit beschäftigen müssen.

Wir reden jetzt vom ungewollten Wegzug. Aber strukturschwache Bergregionen entleeren sich auch sonst. Wird sich die Abwanderung noch beschleunigen angesichts der wachsenden Naturgefahren?
Das glaube ich nicht. Die Abwanderung im Berggebiet ist ein jahrhundertealtes Phänomen, das viel mit der Wirtschaftssituation und gesellschaftlichen Entwicklungen zu tun hat. Wie ist das Arbeitsplatzangebot? Wo gibt es Bildungsangebote? Der Aspekt der Naturgefahren und des Klimawandels dürfte bei den wenigsten Menschen das entscheidende Kriterium sein, um wegzugehen.

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