Alfred Heer war schon mehrere Jahre Mitglied des Nationalrats, ein gestandener, landesweit bekannter Parlamentarier, als ihn ein Ratskollege aus einer anderen Fraktion im Bundeshaus fragte, wozu er eigentlich zwei Mobiltelefone auf sich trage. Heers Antwort: «Das eine brauche ich für die Nutten, das andere für die Drogen.» Worauf die Runde in schallendes Gelächter ausbrach.
Diese Episode bringt einen zentralen Charakterzug des Zürcher SVP-Nationalrats Alfred «Fredi» Heer auf den Begriff: seinen ungehobelten Humor. Es war ihm egal, was andere über ihn denken. Er war unabhängig. Er war schlagfertig – und entwaffnete damit gern sein Gegenüber. Er selbst griff regelmässig zum rhetorischen Zweihänder, er konnte laut und grob sein. Mit seiner hemdsärmeligen Art verkörperte Heer den Aufstieg der Zürcher SVP in den Neunzigerjahren. Damals kippte das Anti-Establishment nach rechts, die Arbeiterklasse wechselte in hellen Scharen von der Sozialdemokratie zur Partei mit den unzimperlichen Slogans. Zugleich erodierte der alte Freisinn. Dem Polizistensohn Heer waren das Sechseläuten mit seinen geschniegelten Zünftern und die Perlenketten-Ladys vom Zürichberg ähnlich fremd wie der 1. Mai und die linke Elite, der er zeitlebens Selbstgerechtigkeit vorwarf.
Blocher nannte er scherzhaft «Heiland»
Heer war kein Rebell, aber ein Freigeist, der in keine Schablone passte. Seiner Partei gegenüber verhielt er sich stets loyal; mit seinem harten Kurs gegen die Migrationspolitik, gegen die EU und gegen hohe Steuern lag er ganz auf Linie der SVP. Als deren Kantonalpräsident verbuchte er Wahlerfolg auf Wahlerfolg. Christoph Blocher pflegte er scherzhaft den «Heiland» zu nennen, womit er sich über den Kadavergehorsam mancher Parteifreunde gegenüber dem Herrliberger lustig machte.
Heers soziale Basis waren die Mavericks im Halbdunkel der Zürcher Szenebars, nicht wenige von ihnen mit zickzackförmigem Lebenslauf, dennoch allesamt fleissige Leute, die nicht auf Kosten von anderen leben. In Heers Stammlokalen stossen Selfmade-Millionäre mit Bauarbeitern an. Gleichheit nach «Fredis» Manier.
Keiner konnte schöner schimpfen
Seine legendären Tiraden trafen auch Figuren des eigenen Spektrums. Blumig wie kein Zweiter konnte er sich über Karrieristen in seiner Partei ereifern, die sich statt der politischen Sache ganz ihrer Selbstoptimierung verpflichtet fühlen. Wie er mit seiner «Züri-Schnurre» das Wort «Schafseckel» aussprach, hatte poetische Qualitäten. Überhaupt konnte kaum einer schöner schimpfen als Heer; sei es über die plumpen Eitelkeiten seiner Mitstreiter oder über die Unfähigkeit gewisser Regierungsmitglieder.
Akademische Titel und gesellschaftlicher Status waren ihm einerlei. Und doch erwies er sich als einer der cleversten, scharfsinnigsten Parlamentarier des Landes. Er durchschaute Motive und Zusammenhänge, er konnte sich als Präsident der Geschäftsprüfungsdelegation akribisch in politische Affären einarbeiten und mit dem politischen Gegner zusammenspannen: im PUK-Bericht zur Credit Suisse ebenso wie in der Kampagne für den ehemaligen SP-Bundesrat Alain Berset, der als Generalsekretär des Europarats kandidierte – und gewann.
Heer war ein ehrlicher Typ, bewahrte sich aber durchaus etwas Geheimnisvolles. Selbst Freunde erfuhren bisweilen erst spät, dass er wieder ein gesundheitliches Problem überwunden oder sich sein Beziehungsstatus geändert hatte.
Kulturelle Vielfalt von Kindesbeinen an
Widersprüche und Schattierungen zeichneten ihn aus. Er bewegte sich in den Untiefen des Zürcher Milieus und verblüffte gelegentlich mit exzellenten Kontakten in die internationale Politik – nicht nur dank seines langjährigen Einsatzes als Schweizer Delegationspräsident im Europarat, sondern auch als Wahlbeobachter in vielen Ländern, nicht zuletzt als bedingungsloser Israelfreund. Sein enormes welthistorisches Wissen erstreckte sich vom Balkan über die Levante bis in den Kaukasus. Die Plattitüden linker wie rechter Meinungsmacher zum Nahostkonflikt waren ihm ein Graus; Heer hatte das Heilige Land häufig bereist, sprach fliessend Hebräisch und etwas Arabisch.
Er verachtete die Multikulti-Doktrin der Progressiven, war aber schon früh Kosmopolit. In einer seiner Blick-Kolumnen schilderte er, wie er im Kreis 4 geboren und aufgewachsen war: «Mit zwei Brüdern und meinen Eltern wohnten wir in einer Dreieinhalbzimmerwohnung. Zwei Familien im Haus waren aus Italien eingewandert, ein Mann aus der Türkei. Drei Familien waren jüdisch, zwei katholisch, zwei reformiert und eine Person muslimisch. Die Wohnverhältnisse waren für alle eng, dafür war die Hilfsbereitschaft untereinander umso grösser.»
Seine Blick-Kolumne erlangte Kultstatus
Heer besuchte Schützenfeste und SVP-Buurezmorge, punktete aber nicht weniger bei Migranten. 2018 gründete er mit albanischen Freunden die Handelskammer Schweiz-Kosovo. Selbstverständlich wollte er, dass die Medien davon erfuhren. Die Öffentlichkeit erkannte er als wichtiges Instrument der Politik. 2023 schrieb er eine von zahlreichen Kolumnen für den Blick. Seine Beiträge unter der Dachzeile «Berner Platte» – typisch Fredi Heer – polarisierten. Er nahm die Gier und die Doppelmoral der Mächtigen ins Visier, ob aufseiten der Linken oder in den Teppichetagen der Wirtschaft. Seine Texte erlangten Kultstatus. 47 Kolumnen hat Heer für den Blick verfasst. Seine siebenundvierzigste, über das Verschweigen der Hautfarbe von Verdächtigen durch die Polizei, sollte seine letzte werden. Heer verstarb Donnerstagnacht aus gesundheitlichen Gründen in dem Viertel, in dem er geboren worden war, 63-jährig. Er hinterlässt eine erwachsene Tochter.
Sein pompöses Poltern werden wir nun nie mehr vernehmen. Auch keine Sprüche mehr wie jene über seine beiden Handys. Bleiben wird, was sich hinter dem Schimpfen und den derben Zoten verbarg. Schliesslich lehrten uns die wortgewaltigsten Miesepeter der Geschichte von Arthur Schopenhauer bis Thomas Bernhard, dass sich hinter einer grimmigen Fassade oft etwas ganz anderes verbirgt – etwas, was Alfred Heer zeitlebens angetrieben hatte: eine tiefe Menschenliebe.