Darum gehts
Keine andere Schweizer Stadt steht mehr für Weltoffenheit als Genf, Sitz der Vereinten Nationen und von vielen weiteren internationalen Organisationen. Der Beobachter trifft die ehemalige SP-Aussenministerin Micheline Calmy-Rey (80) im Centre International de Conférences de Genève, wenige Hundert Meter vom Uno-Hauptsitz entfernt. Calmy-Rey gilt als engagierte Europäerin.
Zu den neuen Verträgen mit der EU hat sie nach anfänglicher Skepsis eine klare Position.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Micheline Calmy-Rey, als Aussenministerin konnten Sie während Ihrer Amtszeit von 2003 bis 2011 das Verhältnis der Schweiz zur EU entscheidend mitprägen. Wie ist Ihre Bilanz?
Micheline Calmy-Rey: Als ich mein Amt antrat, lagen die Bilateralen II auf dem Verhandlungstisch. Ich habe mich mit voller Überzeugung dafür engagiert und in den Städten und Dörfern Wahlkampf betrieben. Die zehn neuen Abkommen, darunter Schengen/Dublin und die Zinsbesteuerung, wurden 2004 unterzeichnet. Es folgten die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf neue Mitgliedsländer wie etwa Rumänien und Bulgarien und Abkommen über die Berufsbildung sowie über die gegenseitige Anerkennung von geschützten Ursprungsbezeichnungen im Jahr 2011. Das war eine Zeit der Stärkung und der Konsolidierung des bilateralen Wegs. Mit den Bilateralen I und II hatten wir einen guten Kompromiss erzielt zwischen einer verstärkten Partnerschaft mit der EU und der Achtung unserer Souveränität.
Wie ging es nach Ihrer Amtszeit weiter?
Es folgte eine Zeit der Blockade. Im Jahr 2014 nahm das Volk die Masseneinwanderungsinitiative an, im Jahr 2021 lehnte der Bundesrat das Rahmenabkommen ab. So ist die Ausgangssituation, wie sie sich nun bei der Debatte um die neuen Verträge, wir können sie Bilaterale III nennen, präsentiert.
Sie sagen, die Bilateralen I und II sind ein Erfolg. Warum belassen wir es nicht beim Status quo? Brauchen wir wirklich neue Verträge?
Mit Ausnahme von Schengen sind die Abkommen der Bilateralen I und II statische Abkommen. Sie müssen bei Entwicklungen des EU-Rechts neu verhandelt werden, sonst werden sie obsolet. Bei den neuen Verträgen muss man – wie bei jeder Verhandlung – analysieren, was man gegeben und was man bekommen hat. Ich muss vorausschicken, dass ich den genauen Vertragstext nicht kenne. Er ist jetzt, zum Zeitpunkt dieses Gesprächs, noch nicht öffentlich. Ich äussere mich auf der Grundlage dessen, was ich in der Presse gelesen habe. Was also geben wir? Es sind die institutionellen Aspekte, die dynamische Übernahme des europäischen Rechts.
Der Beobachter lässt in der Debatte um die neuen EU-Verträge verschiedene Stimmen zu Wort kommen und liefert leicht verständliche Fakten zum Thema.
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Für viele dürfte genau das die rote Linie sein, die mit den neuen Verträgen überschritten wird, oder nicht?
Mir scheint der institutionelle Preis hoch. Wir müssten dynamisch die Entwicklungen des europäischen Rechts übernehmen. Wir könnten nach wie vor das Referendum ergreifen und dann darüber abstimmen, wüssten aber nicht, was bei einem Nein passiert. Die EU könnte die Schweiz bestrafen. Wenn man uns sagt: «Ihr könnt abstimmen, aber ihr werdet bestraft, wenn ihr Nein sagt», welchen Sinn hat es dann, ein Referendum abzuhalten?
Sie sagen, der Preis ist hoch. Zu hoch?
Schauen wir, was wir dafür bekommen. Wir können weiterhin unsere Löhne und Arbeitsbedingungen mit innenpolitischen Massnahmen schützen. Wir haben Ausnahmen bei den Richtlinien über die Unionsbürgerschaft erhalten: Kriminelle Ausländer können beispielsweise in ihre EU-Heimatländer ausgewiesen werden. Aufenthalt wird nur Europäern gewährt, die seit fünf Jahren in der Schweiz arbeiten. Und schliesslich hat sich die Schweiz mit der Schutzklausel einen Joker gesichert.
Ist eine Schutzklausel nicht bereits in den Bilateralen I enthalten?
Ja, aber neu ist, dass sich die Schweiz bei Uneinigkeiten an ein Schiedsgericht wenden kann. Das ist eine institutionelle Neuerung. Wenn das Schiedsgericht der Schweiz recht gibt, setzt die Schweiz ihre Massnahmen um. Die EU darf dann aber ihrerseits Sanktionen verhängen. Diese müssen jedoch verhältnismässig und auf den freien Personenverkehr beschränkt sein. Wenn das Schiedsgericht hingegen der EU recht gibt, kann die EU uns auch in anderen Bereichen, die unter die Abkommen fallen, bestrafen, mit Ausnahme der Landwirtschaft.
Und wie sieht nun Ihre Bilanz aus?
Zum Preis dieses institutionellen Streitbeilegungsverfahrens erhalten wir Frieden mit der EU und Zugang zum grossen europäischen Markt mit seinen 450 Millionen Konsumentinnen und Konsumenten. Jeder wird da seine eigene Analyse machen. Ich persönlich denke, dass die Strategien des Rückzugs und der Konfrontation mit der EU keine vernünftigen Optionen darstellen. Die Handelshemmnisse nähmen wahrscheinlich rasch zu. Wir können den Verträgen zustimmen, auch wenn bei den Gegenleistungen vielleicht noch etwas mehr möglich gewesen wäre.
Woran denken Sie?
Ich bedauere, dass die Schweiz die Gelegenheit dieser Verhandlungen nicht genutzt hat, um mit der EU ein Sicherheitsabkommen auszuhandeln, das mit ihrem Status als neutraler Staat vereinbar ist. Wir tragen zu Frieden und Sicherheit in Europa bei. Wir leisten heute bereits die guten Dienste und empfangen internationale Konferenzen. In der Ukraine helfen wir beim Wiederaufbau und bei der Entminung. Die Schweiz ist nicht das Sicherheitsloch in der Mitte Europas, als das sie manche gern bezeichnen. Das Neutralitätsrecht verpflichtet uns, in der Lage zu sein, unser Territorium zu verteidigen. Die Sicherheit der Schweiz hängt von ihrer Armee ab, aber auch von ihrer Fähigkeit, mit ihren Nachbarn zusammenzuarbeiten. Man kann sicherlich mehr erreichen. Unsere Leistungen werden nicht immer anerkannt. Es wäre darum gut gewesen, wenn man sie in einem Vertrag festgehalten hätte.
Sie hätten besser verhandelt als der jetzige Bundesrat?
Nein, nein, das habe ich nicht gesagt. Der Bundesrat hat sein Bestes gegeben. Ich sage bloss, dass ein Abkommen zu Sicherheitsfragen die erhaltenen Gegenleistungen noch verbessert hätte.
Was denken Sie, wie wird das Volk entscheiden?
Ich bin keine Wahrsagerin. Und die Abstimmung soll ja erst 2028 stattfinden. Bis zum Abstimmungstermin kann viel passieren, und es gibt viele offene Fragen. Wird der Krieg in der Ukraine andauern? Wird die EU ihre derzeitige Spaltung zwischen den alten und den neuen Mitgliedern überwinden können und zu einer gefestigten Aussen- und Sicherheitspolitik finden? Oder wird ihre Attraktivität abnehmen?
Hat für Sie die Idee der EU und von Europa an Glanz verloren?
Es war eine Idee des Friedens, es war eine Idee der Harmonie auf dem europäischen Kontinent nach dem Zweiten Weltkrieg. Und das hat sich geändert. Europa ist heute geteilt, diese Entwicklungen können wir nicht kontrollieren. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir geografisch in der Mitte Europas liegen und ein Interesse an stabilen Beziehungen zur EU haben. Wie auch immer sich diese entwickelt.