Darum gehts
Die Kampfansage der Gewerkschaften kam, bevor auch nur die Eckpunkte der neuen Verträge mit der EU bekannt waren. «Ohne einen besseren Schutz des Schweizer Service public und der Löhne machen die Gewerkschaften beim Vertragspaket nicht mit», kündigte Pierre-Yves Maillard, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB), im Dezember im Radio an. SGB-Chefökonom Daniel Lampart hatte kurz zuvor prophezeit, Arbeiter aus EU-Staaten würden auf Baustellen oder in Lieferwagen schlafen. Wie stehen die Gewerkschaften heute zu den neuen EU-Verträgen?
Wir treffen Daniel Lampart in seinem Büro im geräumigen Industriegebäude an der Monbijoustrasse in Bern, im ehemaligen Sitz der Unionsdruckerei. Eine Mitarbeiterin brüht in einem Espressokocher Kaffee auf, weil die Kaffeemaschine defekt ist. «Wie in einer WG», sagt Lampart, während die Maschine auf dem Herd sprudelt und zischt.
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Daniel Lampart, warum haben Sie im Herbst derart alarmistische Töne angeschlagen?
Aufgrund der damals vorliegenden Informationen mussten wir befürchten, dass der Lohnschutz abgebaut und der Service public geschwächt würde. Wir haben die höchsten Löhne in Europa und sind das offenste Land. Deutsche und österreichische Firmen können auf Deutsch offerieren, französische auf Französisch, italienische auf Italienisch. Das erhöht den Konkurrenzdruck. Deshalb haben wir immer gesagt, dass der Lohnschutz nicht verhandelbar sei.
Lampart schenkt den Kaffee ein. Früher ein Luxusprodukt – doch für die Menschen in der Schweiz längst Alltag. In Europa verdienen nur die Luxemburger und die Isländer mehr. In der Schweiz beträgt der Durchschnittslohn 83'332 Dollar pro Jahr. Es folgen Belgien, Norwegen, Österreich und die Niederlande.
Doch die richtig grossen Unterschiede zeigen sich, wenn man nach Osteuropa schaut: Wer in Ungarn arbeitet, verdient mit 31'709 Dollar im Schnitt weniger als halb so viel wie jemand in der Schweiz. Auch in Portugal und Polen liegen die Löhne weit unter dem Schweizer Niveau.
Daniel Lampart, was waren konkret Ihre Bedenken?
In der direktdemokratischen Schweiz ist vieles anders organisiert als in anderen Ländern. Oft macht der Staat zwar Vorgaben, überlässt die Umsetzung aber privaten Organisationen und Verbänden. Das ist bei der Unfallversicherung, bei den Pensionskassen und auch beim Lohnschutz so. Dieser wird von den Gewerkschaften und den Arbeitgebern gemeinsam sichergestellt durch die sogenannten paritätischen Kommissionen. Wenn beispielsweise eine Malerfirma sich nicht an die Mindestlöhne hält, wird sie von dieser Kommission gebüsst. In der EU macht das alles der Staat.
Wo liegt hier das Problem?
Wie wir bei uns den Lohnschutz organisieren, ist streng genommen nicht mit dem EU-Recht vereinbar. Der Knackpunkt sind nicht die Mindestlöhne – auch in der EU gibt es gesetzlich vorgeschriebene Mindestlöhne –, sondern vielmehr, wer sie kontrolliert. Wir sind Europameister bei der Zahl der Kontrollen. Die EU fand, es seien zu viele. Aber wir sind auch bei diesem Punkt hart geblieben und waren damit erfolgreich. Die paritätischen Kommissionen und die Kontrollhäufigkeit sind nun gesichert, die EU macht für uns eine Ausnahme.
Die kantonalen tripartiten Kommissionen haben im Jahr 2023 in der Schweiz 36'580 Kontrollen durchgeführt – beispielsweise auf Baustellen. 26 Prozent der ausländischen Betriebe wurden kontrolliert. Etwa jeder fünfte von ihnen hatte seinen Mitarbeitenden zu wenig Lohn gezahlt.
Daniel Lampart, sind die neuen Verträge aus gewerkschaftlicher Sicht nun also ein guter Deal?
Ja. Wir konnten uns auch bei der Spesenregelung durchsetzen. Ausländische Firmen müssen ihren Mitarbeitenden die schweizerischen Ansätze zahlen, wenn sie hier verpflegen und hier übernachten. Das hat uns der Bundesrat zugesichert. Wenn das Parlament zustimmt, tritt die Regelung in Kraft. Sie verhindert, dass sich ausländische Firmen mit tiefen Spesenansätzen einen Vorteil verschaffen können.
Sind Sie da nicht zu optimistisch? Pièce de Résistance der neuen Verträge ist die dynamische Rechtsübernahme. Wer garantiert, dass die EU nicht plötzlich Arbeitnehmerrechte abbaut und die Schweiz dies übernehmen muss?
Das ist tatsächlich ein wichtiger Punkt. In der EU gibt es Binnenmarkt-Hardliner, die versuchen, den Markt zulasten von sozialen Errungenschaften zu stärken. Beispielsweise steht zur Diskussion, die Meldepflichten für ausländische Firmen zu reduzieren. Sie sollen nicht mehr bekanntgeben müssen, an welchem Ort sie arbeiten. Kontrollen würden so erschwert, wenn nicht verunmöglicht. Aber für solche Fälle sehen die Verträge eine Schutzklausel vor. Verschlechterungen beim Arbeitnehmerschutz muss die Schweiz nicht übernehmen.
Der Gewerkschafter Daniel Lampart kann die neuen Verträge gutheissen. Aber wie sieht es mit dem Staatsbürger Daniel Lampart aus? Machen ihm das Schiedsgericht und die dynamische Rechtsübernahme keine Sorgen?
Wir sind eine Gewerkschaft. Wir kämpfen für bessere Löhne und für alles, was für Arbeitnehmende relevant ist. In Bezug auf die weltanschaulichen Fragen gehen auch bei unseren Mitgliedern die Meinungen auseinander. Wir halten den Fokus deshalb auf den harten gewerkschaftlichen Fragen. Aus dieser Perspektive ist klar, dass wir an guten und geregelten Beziehungen zur EU interessiert sind. Der Zugang zum EU-Markt ist wichtig für unsere Löhne und Arbeitsplätze. Wenn wir unsere Medikamente und Maschinen nicht mehr exportieren können, sinkt nach einer gewissen Zeit auch der Lohn des Malers oder der Lehrerin.
Der Kaffee ist getrunken, das Gespräch zu Ende. Wie zu Beginn unseres Treffens mit Daniel Lampart, wo der Espressokocher «wie in einer WG» auf dem Herd sprudelte und zischte, lässt sich auch das Verhältnis der Schweiz zur EU beschreiben. Man ist nah beieinander, teilt sich einen Raum. Man lebt quasi unter einem Dach, aber jeder hat seine eigenen Regeln und Vorstellungen, wie der Kaffee gekocht oder das Zusammenleben gestaltet werden soll. Mal läufts rund, mal zischt und sprudelt es ein bisschen.