«Bist du für 5a oder für 5b?» Zwei verschiedene Gaza-Resolutionen sind Gesprächsthema Nummer eins beim Mittagessen der SP-Delegiertenversammlung in Sursee LU. «23.50 Franken für ein veganes Essen ist ganz schön teuer», schimpft ein Genosse und spricht dann wieder über den Nahostkonflikt.
Zu Gaza gibt es später über 20 Wortmeldungen. Völkermord, Genozid, Holocaust, Apartheid: Die SP-Delegierten greifen zu drastischen Bildern. Die Debatte gleicht einer Psychoanalyse zum Nahost-Komplex der Linken. Der ehemalige Tessiner Nationalrat Franco Cavalli (83) berichtet, wie er lange Zeit ein Israel-Fan war. Er sah in den Kibbuzim sozialistische Ideale realisiert. Während des Sechstagekrieges habe er Blut für Israel gespendet. Doch nach jedem Israel-Besuch sei er enttäuschter zurückgekehrt. Der Rassismus gegenüber den Palästinensern habe jedes Mal zugenommen. «In den besetzten Gebieten herrscht Apartheid», kritisiert der Tessiner.
Drastischere Worte wählt Mesken Kahraman (36) aus Solothurn: «Die Situation in Gaza gleicht einem Holocaust für Palästinenser», sagt die Kurdin. Und wird von der Sitzungsleitung unterbrochen: «Wir lassen keine Vergleiche zum Holocaust zu.» Daraufhin kontert Kahraman: «Dann bezeichne ich das als Genozid. Mütter graben mit den Händen nach den Leichnamen ihrer Kinder. Wenn Gaza die Zukunft des Krieges ist, dann habe ich Angst um die Zukunft.»
Kritik vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund
Jonathan Kreutner (46), Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), kritisiert den Holocaust-Vergleich scharf. «Dieser Vergleich ist eine antisemitische Äusserung gemäss der Holocaust-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance, hinter die sich paradoxerweise auch die SP stellt», sagt er zu Blick. Es sei «gut gewesen, dass die Sitzungsleitung die Delegierte unterbrochen und den Vergleich zurückgewiesen hat».
Um eine diplomatische Lösung bemüht sich die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr (62). Da sie keine SP-Delegierte ist, kann sie selbst keinen Antrag einbringen – und wirbt dafür, dass andere einen Ordnungsantrag stellen. Es gehe nun darum, Brücken zu bauen. Beide Resolutionen passten nach dem Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas sowie nach den Gewaltexzessen nach einer Demonstration in Bern «nicht mehr so ganz». Die erste Resolution überschreite gar rote Linien. «Sie adressiert Israel und nicht die israelische Regierung. Sie geht von einer kollektiven Schuld aus und fordert einen Boykott – auch gegen die Hunderttausenden, die für den Frieden und gegen Netanyahu auf die Strasse gehen», kritisiert Fehr.
Fehr wollte Debatte verschieben
Als Kompromiss schlägt Fehr vor, die Debatte zu verschieben: «Lasst uns innehalten und nachdenken, was die Rolle der Linken in Europa sein könnte, um im Nahen Osten Beiträge für den Frieden zu leisten.» Die Zürcher Nationalrätin Priska Seiler-Graf (57) stellt dann auch den von Fehr gewünschten Ordnungsantrag – findet aber keine Mehrheit. Am Ende wird über beide Resolutionen abgestimmt, beide erhalten eine deutliche Mehrheit.
Die Parteileitung hatte eine Resolution zu Gaza vorgelegt, in der unter anderem «der von Israel verübte Genozid» verurteilt wird. Das Papier stiess schon im Vorfeld des Parteitags auf Kritik, weil es nicht auf die Verbrechen der Hamas eingehe – unter anderem der jüdische Ständerat Daniel Jositsch (60) hatte die Parteileitung im Vorfeld dafür kritisiert. Daraufhin reichte Nationalrätin Andrea Zryd (50) eine zweite Resolution ein, in der eine «konsequente Durchsetzung des Hamas-Verbotes» gefordert wird. Zryds Resolution spricht nicht von einem Genozid, sondern von «Kriegsverbrechen in Gaza und der Westbank».
Buhmann Ignazio Cassis
Unter den Zuhörerinnen sind auch die palästinensische Botschafterin bei der EU in Brüssel, Amal Shakaa (52), und die palästinensische Politikerin Nada Jaradat (30). Sie stammt aus Nablus und ist zusammen mit anderen Politikerinnen der «Progressiven Allianz» zur SP-Delegiertenversammlung eingeladen. «Wir würden es sehr begrüssen, wenn die Schweiz endlich Palästina anerkennen würde», sagt Jaradat im Gespräch mit Blick. Die brasilianische Frauenministerin Márcia Lopes (68) pflichtet ihr bei: «Solidarität kennt keine Grenzen.»
Der globale Süden steht geschlossen hinter Palästina – die Genossen hingegen ringen um die richtigen Worte. Nur in einem sind sie sich einig: Die Politik des Bundesrates sei katastrophal und Aussenminister Ignazio Cassis (64) ein Totalausfall. Ihm werfen sie eine humanitäre Bankrotterklärung vor. Die Schweiz solle nun «substanzielle Beiträge zum Wiederaufbau Gazas» leisten.
Kritik an SP-Resolution
Bei SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner bleibt ein Unbehagen zurück: «Die erste SP-Resolution zu Gaza ist unausgewogen. Israel wird in die Rolle des alleinigen Aggressors gerückt und vorverurteilt. Der Genozid-Vorwurf ist nicht faktenbasiert. Die SP trägt damit nicht zu einer sachlichen Auseinandersetzung bei, sondern befeuert die aufgeheizte Stimmung weiter.» Ausserdem pflichtet er Regierungsrätin Jacqueline Fehr bei, «dass hier rote Linien überschritten werden, bin aber froh, dass es auch eine zweite, ausgewogenere Resolution gibt».