«Wenn wir Probleme haben, machen wir nicht Deckel drauf»
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Bundesrat Beat Jans:«Wenn wir Probleme haben, machen wir nicht Deckel drauf»

Das grosse Interview zur 10-Millionen-Schweiz
Wie viele Menschen verträgt die Schweiz denn, Herr Jans?

Im Sommer fällt die Schweiz einen Richtungsentscheid: Die 10-Millionen-Initiative der SVP kommt an die Urne. Bundesrat Beat Jans zieht in einen der härtesten Abstimmungskämpfe der letzten Jahre.
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Justizminister Beat Jans muss die 10-Millionen-Initiative der SVP bodigen.
Foto: Thomas Meier

Justizminister Beat Jans (61) hat Muskelkater. Am Vortag hatte er mit dem FC Nationalrat gegen die YB Old Stars mit Stéphane Chapuisat (56) 5:7 verloren. Er spielte als linker Verteidiger. 

Verteidigen muss Migrationsminister Jans auch die Haltung des Bundesrats gegen die 10-Millionen-Initiative der SVP. Diese Woche hat der Ständerat beschlossen, dass die Initiative ohne Gegenvorschlag vors Volk soll. Wie will der Bundesrat die Bevölkerung überzeugen? Mit Basler Läckerli auf dem Tisch empfängt Jans Blick zum Interview.

Beat Jans, laut Umfragen wird es sehr knapp bei der Abstimmung über die 10-Millionen-Schweiz. Schaffen Sie das Nein zur Initiative noch?
Beat Jans:
Der Bundesrat ist überzeugt, dass die Initiative grosse Nachteile für die Schweiz bringt. Sie löst keine Probleme. Im Gegenteil, sie schafft neue: Zum Beispiel für Sie, wenn Sie dereinst mal in einem Spital liegen und vergebens nach einer Ärztin oder einem Pfleger läuten. Wir haben starke Argumente, um der Bevölkerung die grossen Risiken deutlich zu machen.

In der Bevölkerung ist die Skepsis gegenüber dem Wachstum gross. Beschäftigt Sie das nicht?
Die Wachstumssorgen nehmen wir sehr ernst und antworten mit konkreten Massnahmen. Aber man kann nicht einfach eine fixe Zahl in die Bundesverfassung schreiben und meinen, nachher seien die Probleme gelöst. Manchmal ist von «Wachstumsschmerz» die Rede, weil die Bevölkerung wächst. Wenn ein Kind Wachstumsschmerzen hat, dann sagen Sie auch nicht: 1,60 Meter reichen, jetzt darfst du nicht mehr weiterwachsen. 

Trotz der Sorgen verzichtet das Parlament auf einen Gegenvorschlag.
Der Bundesrat hat ein Gegenprojekt: die bilateralen Verträge mit der EU. Sie beinhalten eine Schutzklausel, welche die Zuwanderung viel besser steuert. Und der Bundesrat hat Begleitmassnahmen beschlossen, etwa beim Wohnungsbau, im Asylbereich oder für den Arbeitsmarkt. Das Parlament kann diese Massnahmen jederzeit ausbauen. Wir müssen nicht warten, bis die Schweiz 9,5 oder 10 Millionen Einwohner hat.

Auf der Strasse könnte diese Begleitmassnahmen wohl niemand aufzählen. Reicht das, um der Initiative den Wind aus den Segeln zu nehmen?
Diese Massnahmen bringen konkrete Resultate. Wir sorgen zum Beispiel dafür, dass ältere Arbeitnehmende wieder einen Job finden. Die Initiative hingegen bietet nichts, um die 10-Millionen-Grenze zu verhindern. Sie verursacht nur Probleme, auch mit unserem wichtigsten Partner, der EU.

Nochmals: Es gibt keinen Gegenvorschlag. Steigende Mieten aber oder volle Autobahnen sind grosse Sorgen der Schweizer. Nehmen Sie das wirklich genügend ernst?
Der Bundesrat handelt. Jährlich investieren wir Milliarden in Bahnen und Strassen. Der Infrastrukturausbau schreitet in der Schweiz wie in kaum einem anderen Land voran. Die Verkehrszunahme kommt vor allem vom Freizeitverkehr und vom Tourismus – daran ändert die Initiative nichts. 

Man muss schon sehr viel Geld haben, um sich in Zentren noch Wohneigentum leisten zu können.
Die Lösung liegt auch hier nicht in der willkürlichen Begrenzung der Zuwanderung, sondern bei den Kantonen und Gemeinden. Ich habe mich als Basler Regierungspräsident dafür eingesetzt, dass wir auf unserem Entwicklungsareal 30 Prozent günstigeren Wohnraum haben. Das ist der Weg. Und …

Bitte.
Nehmen Sie London. England ist den Brexit-Befürwortern auf den Leim gegangen. Man glaubte, dass mit Abschottung und dem Ausstieg aus der Personenfreizügigkeit alles besser wird. Das Gegenteil ist eingetreten. Es gibt nicht mehr freie Wohnungen, alles ist teurer geworden, die Zuwanderung hat massiv zugenommen. Die Regierung hat unterdessen sogar Steuererhöhungen angekündigt, und in den Spitälern fehlen Leute. Der Bevölkerung geht es nach dem Brexit schlechter, nicht besser.

Es scheint, als ob Sie keine negativen Folgen der Zuwanderung sehen wollen.
Wenn die Bevölkerung zu schnell wächst und man sich nicht darauf einstellen kann, dann kann das zu Herausforderungen führen. 

Dann sagen Sie also, die Zuwanderung war in den letzten Jahren zu schnell?
Das Bevölkerungswachstum hat Probleme verschärft, etwa im Wohnungsbereich. Es gibt zweifellos Herausforderungen, aber die können wir lösen. Es hilft aber nichts, eine fixe Zahl in die Verfassung zu schreiben. Dann verschliesst man die Augen vor der Realität. 

Was ist denn aus Ihrer Sicht die Realität?
Wir profitieren von der Zuwanderung, weil sie Wohlstand schafft. Die Schweiz ist eines der reichsten, innovativsten und friedlichsten Länder. Das sollten wir nicht aufs Spiel setzen. Gerade wir als Gesellschaft, die älter wird und immer weniger Kinder hat. 72 Prozent der Ärzte kommen aus dem Ausland. Nur dank der Zuwanderung können wir unser Pflegesystem aufrechterhalten. Und sie stützt unsere Sozialversicherungen. 

Die Befürworter der Initiative erwähnen oft den Dichtestress. Kennen Sie das Gefühl?
Ja, der Bundesrat nimmt dieses Gefühl ernst. Darum baut er auch die Bahnhöfe, das Schienennetz oder auch die Strassen aus. Ich persönlich lebe in einem der am dichtesten bevölkerten Quartiere der Schweiz, im Basler Matthäusquartier. Wir haben dort unsere Kinder grossgezogen und fühlen uns wohl. 

Ihnen ist es also nie zu eng am Morgen im Tram?
Ich stehe fast immer im Tram, wenn ich am Montagmorgen an den Bahnhof fahre und am Freitagabend wieder nach Hause. Mich stört das aber nicht. 

Ob die Personenfreizügigkeit enden würde, hängt auch stark von der Reaktion der EU ab. Im Hintergrund ist von EU-Vertretern zu hören, ein Ja zur Initiative würde auch das Ende der Verhandlungen bedeuten. Spüren Sie diese Drohung?
Ich würde es nicht als Drohung bezeichnen. Die Bilateralen III haben wir hervorragend verhandelt. Wenn wir das Resultat nicht annehmen und nochmals mit Extrawünschen kommen, dann hat die EU möglicherweise irgendwann genug. 

Sie sagen, bei einem Ja würde die Bevölkerung den Preis zahlen. Allerdings profitiert der Einzelne laut den Gegnern schon heute nicht mehr von der Zuwanderung. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf wächst nicht mehr.
Diese Aussage ist falsch. Das BIP pro Kopf ist 2024 gestiegen. Es gab Jahre, in denen es vorübergehend gesunken ist, zum Beispiel in der Finanzkrise oder während Corona. Und als mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine auf einmal 70’000 Leute in die Schweiz gekommen sind. Uns geht es besser als zur Zeit vor der Personenfreizügigkeit: Die Löhne waren damals tiefer, die Arbeitstage länger, die Leute konnten nur halb so oft in die Ferien verreisen. Das alles setzen wir aufs Spiel mit dieser Initiative, auch die Bilateralen. 

Man könnte auch Kontingente als Lösung sehen.
Kontingente bedeuten Verteilkämpfe. Wenn die grossen Unternehmen in den städtischen Gebieten ihre Mitarbeiter nicht mehr aus der EU einstellen können, werden sie noch mehr aus den ländlichen Kantonen anstellen. Die ländlichen Gebiete hätten es noch schwerer, Arbeitsplätze zu halten. Das heisst: Die Städte werden jünger, die ländlichen Regionen werden älter. Dann wären insbesondere auch die ländlichen Regionen die grossen Verlierer. 

Wie viele Menschen verträgt die Schweiz denn?
Die Frage ist nicht, wie viele Leute da sind, sondern wie sich das Land organisiert. Der Bundesrat hat mit seinen Begleitmassnahmen konkrete Vorschläge gemacht. 

Sie müssen diesen Abstimmungskampf als linker Städter führen, zudem bietet das Asyldossier viel Angriffsfläche. Ein Steilpass für die SVP. Wieso hat man nicht einen anderen Bundesrat ins Schaufenster gerückt?
Der Bundesrat entscheidet über die Departementsverteilung. Aber ich habe immer gesagt, ich stelle mich dieser Herausforderung. Und ich möchte betonen: Der ganze Bundesrat ist gegen die Initiative. Auch andere Bundesratsmitglieder werden sich aktiv einschalten. 

Verstehen Sie als Städter aus dem weltoffenen Basel die Sorgen der Landbevölkerung zu wenig?
Mein Vater ist ein Bauernsohn aus der Innerschweiz. Er kam wegen der Arbeit nach Basel. Er fühlte sich fremd in der Grossstadt. Wir waren in einem Luzerner Trachtenverein in Basel. Ich kenne die Erfahrung der Migration. Wir müssen aber auch sehen: Die ganze Schweiz hat enorm profitiert von der Zuwanderung. Und hat diese auch sehr gut gemeistert. 

Sie reden jetzt viel über die Zuwanderung aus dem EU-Raum, während des Abstimmungskampfs dürfte es aber zu einem grossen Teil um die illegale Migration gehen. Da stehen Sie permanent in der Kritik.
So wie meine Vorgängerinnen im Justizdepartement und meine Kollegen im Ausland alle auch. Wir sind aber gut unterwegs. Der Aufgriff von irregulär Zugewanderten ist vergangenes Jahr um 50 Prozent zurückgegangen. Und wir haben mit der Asylstrategie weitere Massnahmen aufgegleist, um das Asylsystem zu entlasten.

Nicht alle sehen Sie auf diesem guten Weg. Ihr Ex-Parteikollege, der Zürcher Regierungsrat Mario Fehr, hat Ihnen am Dienstag Zögerlichkeit vorgeworfen. In Bern mache man nicht vorwärts.
Vor drei Wochen haben wir mit den Kantonen, Gemeinden und Städten die Asylstrategie 2027 verabschiedet. Dazu hatten wir die Regierungsräte zu einer Konferenz eingeladen. Ich bedaure sehr, dass Mario Fehr da als einziger nicht mitgewirkt hat. Dort haben wir die Schritte, die er fordert, im Wesentlichen beschlossen. 

Es gibt 10'000 offene Asylverfahren. Die beschleunigten Verfahren, die Sie versprochen haben, bringen offenbar noch nicht so viel.
Als ich angefangen habe, gab es 16'000 Pendenzen, jetzt sind es noch 10'000. Wir wollen die Beschleunigung zusammen mit den Kantonen, Städten und Gemeinden weiter forcieren.

Vor allem beim Bundesverwaltungsgericht stapeln sich die Gesuche.
Das ist uns bewusst. Es gilt die Gewaltentrennung, der Bundesrat kann dem Gericht nicht sagen, was es zu tun hat. Wir hoffen, dass sie das Problem schnell lösen. Nur in 3 Prozent der Fälle wird ein Entscheid der Behörden aufgehoben, 97 Prozent halten stand. 

Weihnachten steht an. Wie verbringen Sie die kommenden Tage?
Mit der Familie. Wenn es die Arbeitslast erlaubt, machen wir eine Reise nach Italien, da meine Schwiegereltern dort sind. 


 

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