Darum gehts
Es ist Sonntag, der 14. Juni 2026. Soeben haben Volk und Stände die Volksinitiative «Keine 10-Millionen-Schweiz!» knapp angenommen. SVP-Präsident Marcel Dettling jubiliert. «Das Volk hat schon 2014 entschieden, dass Höchstzahlen und Kontingente einzuführen sind. Punkt! Das ist endlich umzusetzen!», fordert er. Diesmal müsse seine Partei «auf jeden Fall in die Diskussionen zur Umsetzung der eigenen Volksinitiative» einbezogen werden.
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Das Szenario mag Fiktion sein. Doch spätestens wenn daraus Realität würde und die 10-Millionen-Initiative angenommen würde, stünde die Frage im Raum: Wie soll die Schweiz in Zukunft die Migration steuern? Welches System soll die derzeit geltende Steuerung durch den Arbeitsmarkt ersetzen? Nach einem Abstimmungssieg wäre tatsächlich die Forderung des Initiativkomitees der Ausgangspunkt. SVP-Präsident Dettling sagt: «Das heute zur Kontingentierung von Drittstaatsangehörigen – das heisst von Zuwanderern von ausserhalb der EU – angewandte System liesse sich problemlos auf die Zuwanderer aus den 27 EU-Mitgliedstaaten ausweiten.»
Dieses System lässt nur hoch qualifizierte Arbeitskräfte ins Land, derzeit 8500 Personen pro Jahr. Kontingent: Die Erlaubnis ist an eine Stelle gebunden. Einwandern dürfen direkte Familienangehörige der Person (Gatte/Gattin, Kinder), nicht aber andere Angehörige. Verliert der oder die Betreffende den Job, müssen alle wegziehen. Der Aufenthalt ist oft befristet auf drei bis fünf Jahre.
Der Bundesrat steuert in diesem System die Zuwanderung über das jährliche Kontingent. Seine Grösse ist proportional zur Bevölkerung auf die Kantone verteilt und oft umkämpft. Aus zwei Gründen: Das Kontingent ist klein, die Wirtschaftstätigkeit ungleich konzentriert und die vom Bundesrat definierte Praxis so, dass nur unentbehrliche Hochqualifizierte einwandern dürfen – etwa Forscherinnen, nicht aber Köche.
In Zahlen: 2024 hatte der Kanton Zürich 250 mehrjährige Bewilligungen zu vergeben. Zug hatte nur 29 und der Pharmastandort Basel-Stadt 45. In ungefähr gleicher Zahl gab es Kurzaufenthaltsbewilligungen (bis zu einem Jahr). Haben die Kantone die Kontingente aufgebraucht, können sie beim Bund eine Reserve in ungefähr der Höhe ihres normalen Kontingents anzapfen, doch die Bürokratie ist erheblich.
In der Praxis läuft es so, dass Firmen ein Anwaltsbüro anheuern, das gute Beziehungen zu kantonalen Migrationsämtern hat. Je besser der Anwalt, desto eher die Bewilligung, heisst es. Das Gewerbe klagt, dass vor allem Konzerne sich das leisten können und die Bewilligungen wegschnappen.
Knappe Kontingente
Bei einer generellen Einführung von Kontingenten dürften laut SVP rund 40’000 Bewilligungen jährlich ausgestellt werden, um den Bevölkerungsdeckel von 10 Millionen zu respektieren. Diese Kontingente wären also rund fünfmal grösser, als sie heute sind. Zürich hätte demnach rund 1250, Zug 145 und Basel-Stadt 225 mehrjährige Arbeitsbewilligungen zu vergeben. Zum Vergleich: In Zürich betrug die Nettoeinwanderung in den Jahren 2011 bis 2019 im Schnitt 14’000 Personen pro Jahr, also elfmal mehr.
Das Initiativkomitee dürfte sich dieser Knappheit bewusst sein. So macht SVP-Chef Dettling ein bemerkenswertes Angebot: «Ebenfalls vorstellen könnte sich die SVP alternative Zuwanderungssteuerungssysteme, etwa ein Punktesystem, wie es von Kanada, Neuseeland und Australien erfolgreich angewandt wird.» In der Botschaft des Bundesrates zur Volksinitiative, die im März publiziert wurde, fehlt die Beurteilung alternativer Lösungen.
Justizminister Beat Jans lehnt das Begehren ab, weil er es wirtschaftlich und gesellschaftlich für schädlich hält. «Die Schweiz würde Arbeitsplätze, Wohlstand und Sicherheit sowie politischen Einfluss in Europa und weltweit aufs Spiel setzen», so die bundesrätliche Botschaft. Nur die Ventilklausel zur Personenfreizügigkeit wird als Lösung erwähnt. «Sie kann so formuliert werden, dass sie zeitlich begrenzt oder dauerhaft aktiviert werden kann.» Am Mittwoch hat Jans die Konkretisierung vorgestellt, die neu Schutzklausel heisst.
Bald berät der Nationalrat die SVP-Initiative. Ein Schlussentscheid des Parlaments fällt wohl bis Dezember, die Abstimmung folgt nächstes Jahr.
In diesem Kontext hat die Politelite das Thema zu analysieren begonnen. Den Anfang machte das liberal-konservative Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) unter dem Politökonomen Christoph Schaltegger. Das Institut verwirft das heutige, marktnahe Regime, das EU-Bürger oder -Bürgerinnen in die Schweiz einwandern lässt, wenn sie einen Arbeitsvertrag vorweisen.
Das IWP benennt als Problem unter anderem die Überfüllung und kritisiert den alleinigen Blick auf die positive Bilanz des Wirtschaftswachstums (BIP). Darin seien die externen Kosten nicht sichtbar: «Beispielsweise werden negative Effekte für das Landschaftsbild, auf die Umwelt und die Qualität der Infrastruktur und die Lebensqualität im BIP nicht erfasst», so das IWP. Deshalb brauche es eine Steuerung. Schaltegger favorisiert eine Abgabe, die er Kurtaxe nennt und als marktnah bezeichnet.
Bürokratiekeule Zuwanderergebühr
Anders der Gewerkschaftsbund. In einem Positionspapier legt Chefsekretär Daniel Lampart dar, warum er Kontingente, Punktesysteme und Zuwanderergebühren ablehnt. Das Beispiel Singapur, wo eine solche Zuwanderergebühr eingeführt wurde, zeige, dass die Einführung kompliziert zu regeln wäre und dass sie dazu einladen würde, Umgehungskriminalität zu generieren. Auch die Höhe hätte grosses Konfliktpotenzial: Könnten die margenschwachen Gastrobetriebe nur tiefere Gebühren zahlen als die margenträchtige Pharmaindustrie? Sofern die Gebühr auch nachziehende Familienmitglieder erfasst, dürfte der illegale Aufenthalt «von Lebenspartnern und Kindern rasch zunehmen», so Lampart.
Das zeigt folgende Überschlagsrechnung: Startpunkt ist eine Studie von Wirtschaftswissenschafter Reiner Eichenberger aus dem Jahr 2018. Er geht von einer Gebühr von 12’500 Franken pro Kopf aus. Demnach müsste eine vierköpfige Familie 50’000 Franken Gebühr entrichten – ein Betrag, der zur Umgehung einlädt. Lampart fordert denn auch den Erhalt der heutigen Personenfreizügigkeit samt Lohnschutz. Sein Hauptargument: Kontingente und Alternativen würden Lohndruck erzeugen und unfaire Arbeitsverhältnisse generieren wie beim Kontingentsregime vor 2004, als ausländische Angestellte von ihren Patrons abhängig waren.
Das neue Befürworterargument: Demografie
Damit liegt der Gewerkschaftsökonom auf der gleichen Linie wie Christoph Mäder, Präsident von Economiesuisse, dem grössten Wirtschaftsverband: Auch er lehnt Kontingente ab. «Die 10-Millionen-Schweiz-Initiative ist der falsche Weg», schrieb er Anfang Mai. Er argumentiert nicht mit Fairness am Arbeitsmarkt, sondern mit der Demografie. «Gerade im Kontext der demografischen Entwicklung wäre ein starrer Bevölkerungsdeckel nicht zielführend», kritisiert Mäder die von der SVP geforderte Obergrenze.
Sollte diese Gesetz werden, würde sich das Verhältnis der Pensionierten zu den Werktätigen laufend verschlechtern: Heute sind 1,8 Millionen Menschen in der Schweiz 65-jährig oder älter. Diese Zahl wird laut mittlerem Szenario bis 2050 auf 2,7 Millionen steigen. 1,8 Millionen sind Kinder und Jugendliche. Zieht man von den heute 9 Millionen Einwohnern die Pensionierten und Jungen ab, bleiben 5,4 Millionen, die im arbeitsfähigen Alter sind.
Einwanderung als Korrektur der Überalterung war nie offiziell gewollt
Wird nun die Bevölkerung bei 10 Millionen gedeckelt und die Migration gebremst, wächst der Anteil der über 65-Jährigen überproportional stark an. In Zahlen: 10 Millionen minus Pensionierte (2,7 Millionen) sowie Kinder und Jugendliche (1,8 Millionen) ergibt 5,5 Millionen Werktätige. «Die inländische Erwerbsbevölkerung würde schrumpfen, und der bereits bestehende Arbeitskräftemangel wird sich in den nächsten Jahren verschärfen», sagt Rudolf Minsch, Chefökonom von Economiesuisse.
Mit der Demografie greift der Dachverband ein Thema auf, das in der Migrationspolitik lange abwesend war: dass die Schweiz Zugewanderte braucht, weil sie überaltert. Bisher ging es fast nur ums Rekrutieren für Mangelbranchen; es ging um die Verhinderung von Sozialmissbrauch, und es ging um kulturelle Überfremdung. Einwanderung als Korrektur der Überalterung war nie offiziell gewollt. Sie wurde nur im Nachhinein als positiv beurteilt, etwa zur Sanierung der AHV. Jetzt denkt man um.
Mit der Überalterung der Gesellschaft kämpfen alle europäischen Länder, doch noch hat es die Schweiz vergleichsweise gut. «Mit Blick auf die demografische Entwicklung ist es deshalb zunehmend ein Vorteil, dass die Schweiz attraktiv ist für ausländische Arbeitskräfte», sagt Minsch, und daher sei ein Ja zur SVP-Initiative gefährlich.
Alternative Punktesystem im Abseits
Die vom SVP-Präsidenten genannte Einwanderungsmethode per Punktesystem favorisiert keiner der drei Ökonomen Schaltegger, Lampart und Minsch. Sie gilt als Lösung für typische Einwandererländer wie Kanada und Australien, nicht aber für die kleine Schweiz.
Was die Befürworter der Migrationssteuerung ausblenden, ist, dass es der Schweiz in der Vergangenheit nie gelang, die Migration zu bremsen. Menschen wurden immer entlang der Bedürfnisse der Wirtschaft hereingelassen. Das zeigt der Vergleich der Konjunktur- und der Nettowanderungszahlen. In einer Krise blieb die Zuwanderung aus. Überspitzt gesagt: Immer war die Wirtschaft der Boss, nicht die Politik.
Das bestätigte selbst SVP-Doyen Christoph Blocher. Fünf Tage nach dem Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative 2014 sagte er: «Firmen, die hierzulande das Personal nicht finden, bekommen die nötigen Bewilligungen, so wie früher mit der Kontingentierung.» Die Vermutung liegt nahe, dass die Wirtschaft bei einer allfälligen Annahme der Volksinitiative «Keine 10-Millionen-Schweiz!» immer noch der Boss wäre, bloss bürokratischer.