Darum gehts
Herr Bundesrat, Sie haben offenbar einen Lauf. Die FDP-Delegierten folgen mit überwältigender Mehrheit Ihrem Kurs im EU-Dossier. Nächstes Jahr werden Sie Vorsitzender der OSZE, übernächstes Jahr Bundespräsident. Erleben Sie gerade den Höhepunkt Ihrer Macht?
Ignazio Cassis: Diese Worte würde ich nicht wählen, aber ich bin ziemlich zufrieden, wie sich die Dinge entwickeln. Wir pflegen gute Beziehungen mit der EU und – trotz des Zollstreits – auch mit den USA oder mit China. Mit allen grossen Partnern haben wir auch Differenzen. Aber wir sind zu klein, um das Gefühl zu haben, dass am Schweizer Wesen die Welt genesen soll.
Zum Zollstreit haben wir viele Fragen. Sie stehen in der Kritik, weil nicht Ihre Diplomaten, sondern Milliardäre den Deal möglich gemacht haben. Der Investor Fredy Gantner wirft Ihnen sogar vor, eine Einigung mit Washington verzögert zu haben, um beim EU-Dossier zu punkten.
Für die Zollverhandlungen ist mein Kollege Guy Parmelin zuständig. Ich werde mich dazu nicht äussern.
Was haben Sie mit der neuen FDP-Parteiführung abgemacht? Hören Sie Ende 2027 als Bundesrat auf?
Vielleicht bleibe ich noch viel länger Bundesrat! Scherz beiseite: Niemand ist unersetzlich. Nächstes Jahr haben wir mit dem OSZE-Vorsitz eine wichtige Rolle. Wenn das Parlament will, werde ich 2027 nochmals Bundespräsident. Und dann schauen wir, wie die Welt aussieht. Wir leben heute in einer Zeit, in der wir nicht einmal wissen, was nächste Woche passiert.
Was haben Sie Ihrer Frau versprochen? Werden Sie auch noch dann Bundesrat sein, wenn die Abstimmung über die Bilateralen III erst 2028 stattfindet?
Ich habe eine wunderbare Frau, die enorm viel Geduld mit mir hat. Solange es uns gesundheitlich gut geht, schauen wir, was auf uns zukommt.
Das Parlament diskutiert die Frage, ob Bundesräte nur noch am Ende einer Legislatur zurücktreten dürfen. Was meinen Sie zu dieser Frage?
In acht Jahren Bundesrat habe ich gelernt, niemals zu kommentieren, was das Parlament eigenständig diskutiert.
Wie hilfreich finden Sie den früheren FDP-Chef Thierry Burkart? Erst gleist er eine Vernehmlassung zum EU-Dossier auf – nun lehnt er den klaren Beschluss ab.
Thierry Burkart ist nicht mehr Präsident. Seine Haltung zum EU-Dossier ist kein Geheimnis, das wusste man.
Finden Sie sein Verhalten unkollegial?
Das soll jeder selbst beurteilen. Thierry Burkart ist frei, seine Position zum Ausdruck zu bringen.
Sprechen wir über die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Wie würden Sie einem Kind erklären, was die OSZE tut?
Die OSZE ist eine Familie von 57 Staaten, die sich für Frieden und Sicherheit einsetzt – von Wladiwostok bis nach Vancouver. Und wie in jeder Familie gibt es auch in dieser Schwierigkeiten und Konflikte. Die OSZE muss bereit sein zu handeln, sobald sich die Möglichkeit ergibt – auch wenn im Moment die Möglichkeiten eingeschränkt sind. Wie ein Auto, das in der Garage steht und das man nicht jeden Tag braucht. Aber es ist gut, dass man den Autoschlüssel hat und mit ihm fahren kann, wenn man es benötigt.
Viele empfinden die OSZE als hirntot. Sie sind Arzt – wie lautet Ihre Diagnose?
Eine medizinische Diagnose wäre falsch. Der OSZE geht es so, wie es ihren 57 Mitgliedern geht. Russland führt einen Krieg gegen die Ukraine und verstösst damit gegen fundamentale Prinzipien der OSZE. Doch die Tatsache, dass Russland aus der OSZE nicht ausgeschlossen wurde und die Organisation auch nicht von selbst verlassen hat, deutet darauf hin, dass die OSZE für den Dialog mit Russland wichtig bleibt – wenn auch nur auf Sparflamme.
Zum Ministerrat in Wien haben weder die USA noch Russland ihren Aussenminister entsandt. Zeigt das nicht die Irrelevanz der OSZE?
Die OSZE steht im Moment nicht im Fokus der Aufmerksamkeit.
Möchten Sie das als OSZE-Vorsitzender ändern?
Das steht leider nicht in meiner Macht. Ich kann die Grossmächte aber darauf hinweisen, was die Organisation für Zusammenarbeit leisten kann und welche Kanäle wir nutzen könnten.
Sie haben sich in Wien fast eine Stunde lang mit einem US-Vertreter unterhalten. Welche Erwartungen haben die USA als grösster Beitragszahler?
Die USA sind der Ansicht, dass die OSZE – wie andere multilaterale Organisationen auch – den Kompass verloren hat. Entsprechend wollen die USA das Budget reduzieren. Klar ist auch, dass die Möglichkeiten der OSZE beschränkt sind: Alle 57 Staaten haben ein Vetorecht, alle Entscheide müssen im Konsens getroffen werden.
Sie erben den OSZE-Vorsitz von Finnland – einem Nato-Land, das direkt an Russland grenzt. Hat Russland dieses Jahr die finnische Ratspräsidentschaft boykottiert?
Das kann man nicht sagen. Aber es gibt Spannungen zwischen Helsinki und Moskau. Finnland fühlt sich in der Nato-Familie sicherer als in einer neutralen Position.
Können wir da als neutrale Schweiz umso mehr punkten? Sie sprechen regelmässig mit Moskau und nehmen für Russland ein Schutzmacht-Mandat in Georgien wahr.
Wir dürfen die Chancen der Schweiz nicht im Lichte der Schwierigkeiten anderer Länder betrachten, denn jedes Land hat seine eigene Geschichte. Nur weil wir neutral und reich sind, heisst das nicht, dass uns alles leichter fällt. Geografie ist Politik – wir haben eine ganz andere Beziehung zu Russland als Finnland.
Trump liebt Alleingänge. Sitzt Europa – und damit auch die OSZE – bei den Ukraine-Gesprächen am Katzentisch?
Das ist die neue Welt, in der wir leben. Auch die Nato ist damit konfrontiert: Bleiben die USA – oder nicht? Und falls die USA in der Nato bleiben: Lösen sie sich von der atlantischen Achse und wenden sich der pazifischen Achse zu? Das sind die grossen geopolitischen Fragen, die sich uns zurzeit stellen.
2014 hatte die Schweiz die OSZE-Präsidentschaft inne …
… das war die zweite. Die erste war 1996, damals war Flavio Cotti Aussenminister.
2014 haben Ihr Vorgänger Didier Burkhalter und die Spitzendiplomatin Heidi Tagliavini eine wichtige Rolle gespielt. Sie haben während der Krimkrise das Minsker Abkommen mit ermöglicht. Welche Rolle wird die Schweiz nächstes Jahr spielen?
Wie gesagt: Die Welt war vor zehn Jahren eine ganz andere als heute – das merkt jeder Bürger in der Schweiz. Das Völkerrecht wird nicht mehr als sakrosankt betrachtet. Man zögert nicht, militärische Gewalt anzuwenden, wenn man Differenzen hat. Es zählt immer mehr die Kraft der Armee und immer weniger die Kraft der Diplomatie. Nach dem Fieber der Globalisierung der 1990er-Jahre schlägt das Pendel zurück. Statt Multilateralismus ist vermehrt Nationalismus angesagt. Aber wie mein Vorgänger werde ich versuchen, den OSZE-Vorsitz so wirksam wie möglich zu gestalten.
2014 hat sich Bern intensiv mit Paris und Berlin abgestimmt. Wer werden Ihre engsten Partner sein?
Unsere Nachbarländer spielen für uns eine sehr wichtige Rolle. Zugleich geht es um Ad-hoc-Allianzen mit Ländern, die bereit sind, Reformen mitzutragen. Das Thema Ukraine hat für Portugal aufgrund der geografischen Lage eine andere Bedeutung als für Polen oder Finnland.
Damals hat die Schweiz eine OSZE-Beobachtermission aufgegleist. Können Sie sich das auch für 2026 vorstellen?
Ja, das gehört zu unseren drei Zielen. Die OSZE soll als Austauschplattform konsolidiert werden, in der vertrauensbildende Massnahmen stattfinden können. Zweitens müssen wir die Budgetfrage klären. Und drittens bereiten wir uns für die Rolle der OSZE im Fall eines Waffenstillstands vor. Bereits heute gibt es konkrete Überlegungen dazu: Die Organisation ist in der Lage, kurzfristig einige Dutzende Menschen zu entsenden. Die OSZE könnte den Waffenstillstand beobachten, die Waffenstillstandslinie überwachen, Wahlen monitoren und so weiter. Aber die Frontlinie besteht aktuell aus 1300 Kilometern – um die ganze Länge zu beobachten, ist die OSZE allein zu klein; da bräuchte es viel Engagement seitens der Teilnehmerstaaten.
US-Präsident Trump will einen Deal zwischen Russland und der Ukraine erzwingen. Wie lange dauert das?
So etwas kann ganz plötzlich geschehen – wie beim Gaza-Deal. Mein Ziel ist, dass wir als OSZE bereit sind. Sobald es einen Deal gibt, wollen wir einen Knopf drücken und loslegen. In einem ersten Schritt bräuchten wir eine Erkundungsmission, die ausrückt, die Gegend erkundet und mit einer Diagnose zurückkehrt. Dann könnten wir schnell die weiteren Schritte aufgleisen.
Sprechen wir über ein negatives Szenario: Putin ist zu keinem Waffenstillstand bereit. Was wäre ein minimaler Erfolg für die OSZE?
Die OSZE ist eine Plattform für Austausch und Dialog. Wenn zwei Länder im Krieg sind, können sie entweder miteinander sprechen oder das Gespräch abbrechen. Die Geschichte zeigt uns, dass es nur schlimmer wird, wenn man gar nicht mehr miteinander spricht.
Das heisst, die OSZE bleibt eine Quasselbude?
Wir dürfen nicht unterschätzen, was die OSZE leisten kann, wenn man sie braucht. Nach dem Fall der Mauer 1989 oder 2014 im Rahmen der Krimkrise war die OSZE sehr nützlich. Sie können so etwas aber nicht aus dem Hut zaubern. Wenn wir die OSZE jetzt auflösen würden, bräuchten wir zehn Jahre, um so eine Organisation wieder aufzubauen. Es ist gut, dass wir die OSZE für den Fall X haben.
Selbst beim Waffenstillstand rechnen Experten mit einem negativen Frieden: Es wird weitere Gefechte geben. Entsteht an der ukrainisch-russischen Grenze das, was wir aus Nord- und Südkorea kennen?
Das kann man nicht ausschliessen. Seit über 70 Jahren überwachen auch Schweizer Soldaten die Grenze in Korea. Obwohl nicht mehr geschossen wird, gibt es dort immer noch keinen Frieden. Ich hoffe, dass wir für die Ukraine eine bessere Lösung finden, weil für die Bevölkerung sonst grosse Unsicherheit herrscht. Wir engagieren uns für einen gerechten, dauerhaften Frieden. Die Menschen sollen in Frieden leben können, ohne die Angst, dass jederzeit der Kriegszustand reaktiviert werden kann.
Zurzeit bestimmt Washington den Takt der Verhandlungen. Unter welchen Bedingungen würde eine zweite Bürgenstock-Konferenz Sinn machen?
Die Schweiz steht jederzeit für Friedensgespräche zur Verfügung. Alles andere ist zurzeit jedoch Spekulation.
Die USA, aber auch andere Länder kürzen das OSZE-Budget. Könnte die Schweiz einspringen – oder brauchen wir diese Gelder für das internationale Genf?
Der Schweizer Beitrag an die OSZE beläuft sich auf jährlich circa 3,8 Millionen Franken. Das Gesamtbudget von 138 Millionen Euro ist auf 57 Staaten verteilt. Das Problem ist nicht das Budget, sondern die Frage, welchen Nutzen die Organisation hat.
Man könnte die OSZE effizienter organisieren. Braucht es wirklich sechs Amtssprachen – oder könnten wir auf Deutsch, Italienisch und Spanisch verzichten?
Die Staaten müssen sich verstehen. Ob es dafür sechs offizielle Sprachen braucht und ob es in Zeiten der künstlichen Intelligenz nicht andere Wege gibt, den Übersetzungsdienst zu organisieren: Darüber können wir gerne diskutieren.