Darum gehts
- Europäische Regierungschefs kritisieren Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Migrationsfragen
- Alain Berset warnt vor Politisierung des Gerichtshofs und betont Unabhängigkeit
- Neun europäische Staaten fordern mehr Spielraum bei Ausweisung krimineller Ausländer
Es waren scharfe Worte, mit denen die Regierungschefs von Dänemark, Italien, Österreich und sechs weiteren europäischen Staaten den Europarat kritisierten – insbesondere den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dieser sei bei der Auslegung von Migrationsfragen «zu weit gegangen», gemessen an der ursprünglichen Intention der Menschenrechtskonvention.
Im offenen Brief, den die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen (47) und ihre italienische Amtskollegin Giorgia Meloni (48) initiiert hatten, fordern sie eine grundlegende Diskussion über die Auslegung der Konvention. «Wir haben beispielsweise Fälle gesehen, in denen die Ausweisung krimineller Ausländer aufgrund der Auslegung der Konvention zum Schutz der falschen Personen geführt hat», heisst es im Brief.
Schutz der Opfer im Fokus
«Unserer Ansicht nach sind die Sicherheit und der Schutz der Opfer und der überwiegenden Mehrheit der gesetzestreuen Bürger ein entscheidendes und unverzichtbares Recht. Und dieses Recht sollte grundsätzlich Vorrang vor anderen Erwägungen haben.» Sie fordern auf nationaler Ebene mehr Spielraum für die Ausweisung krimineller Ausländer. «Dies gilt beispielsweise für Fälle von schwerer Gewaltkriminalität oder Drogenkriminalität.»
Der Schweizer alt Bundesrat Alain Berset (53, SP) ist Generalsekretär des Europarats in Strassburg. Er antwortet betupft auf das Schreiben. «Es handelt sich um komplexe Fragen, und eine Demokratie muss stets offen sein für die Reflexion durch geeignete institutionelle Kanäle. Allerdings ist Klarheit von entscheidender Bedeutung.»
Der Gerichtshof sei unabhängig und unparteiisch. «Debattieren ist förderlich, aber den Gerichtshof zu politisieren, ist es nicht», so Berset. «In einer rechtsstaatlichen Gesellschaft sollte keine Justizbehörde politischem Druck ausgesetzt sein. Die Institutionen, die die Grundrechte schützen, dürfen sich nicht den Launen der Politik beugen.» Ansonsten würde man Gefahr laufen, «genau die Stabilität zu gefährden, zu deren Gewährleistung sie geschaffen wurde».
Auch in der Schweiz wächst der Druck
Die Schweiz hat den offenen Brief nicht unterzeichnet – weil man nicht gefragt wurde, wie das Bundesamt für Justiz auf Blick-Anfrage schreibt. Und: «Im offenen Brief wird das Subsidiaritätsprinzip angesprochen.» Dieses sei in der Präambel der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschrieben und werde von sämtlichen Vertragsstaaten mitgetragen.
Doch auch in der Schweiz wächst der Druck. Im Mai hat der Nationalrat einen Vorstoss von FDP-Ständerat Andrea Caroni (45, AR) gutgeheissen. Demnach soll der Bundesrat das Gericht «an seine Kernaufgabe» erinnern. Entstanden war dieser Vorstoss vor dem Hintergrund des Urteils über die Klimaseniorinnen. «Namentlich soll der EGMR keine ideelle Verbandsbeschwerde zulassen und nicht mittels ausufernder Auslegung der Grundrechte den legitimen Ermessensspielraum der Staaten einschränken», heisst es in der Begründung.
Die entsprechenden Arbeiten seien bereits an die Hand genommen worden, heisst es beim Bundesamt für Justiz. «Der Bundesrat wird zu gegebener Zeit geeignete Massnahmen vorschlagen.»