Darum gehts
- Zürcher Obergericht: Abgefangene Mafia-Chats in der Schweiz unverwertbar
- Experten befürchten, Schweiz könnte sicherer Hafen für Kriminelle werden
- Sky-ECC-Daten führten zur Verhaftung hochrangiger Krimineller
Die Schweiz, der sichere Hafen der Mafia? Juristen befürchten dies nach einem Entscheid des Zürcher Obergerichts. Denn: Dutzende Verfahren, auch solche gegen Schwerkriminelle, könnten ohne Verurteilung enden. Von Europol abgefangene Chatnachrichten seien «unverwertbar», so die Schweizer Richter.
Wie CH Media berichtet, sind zahlreiche Experten äusserst besorgt. Allenfalls könnten künftig sogar Kriminelle in die Schweiz kommen, weil hier ihre Chats weniger gut abgehört werden.
Fehlende Rechtshilfe in der Schweiz
Das Urteil betrifft Nachrichten aus dem anonymen Messengerdienst Sky ECC, der nur über speziell präparierte Handys läuft. Mit diesem kommunizierten Kriminelle über Jahre hinweg. Erst 2019 konnte Europol die Kommunikation entschlüsseln. Dies führte zu unzähligen aufgedeckten Straftaten.
Im August schob das Zürcher Obergericht den Ermittlungen jedoch einen Riegel vor: Die Daten aus den Chats dürften in der Schweiz nicht verwertet werden, sofern sich die mutmasslichen Täter hierzulande aufhielten, als Europol die Chats sicherte. Der Grund: Frankreich habe keine Rechtshilfe in der Schweiz beantragt. Deshalb seien die von den dortigen Ermittlern gesicherten Chats ungültig.
Für den früheren Basler Staatsanwalt und Polizeikommandanten Markus Mohler (84) hat das Gericht aber einen wesentlichen Faktor nicht einbezogen. «Das Urteil berücksichtigt das Schengen-Recht nicht. Keiner der diesbezüglichen Artikel im schweizerischen Strafgesetzbuch wird auch nur erwähnt», sagt Mohler gegenüber CH Media. «Es käme, falls rechtskräftig, quasi einer Gehilfenschaft für die organisierte Kriminalität gleich, für Drogenhandel und Geldwäscherei.» Die Schweiz würde damit völkerrechtliche Abkommen verletzen und die internationale Verbrechensbekämpfung untergraben.
Staatsanwaltschaft will vor Bundesgericht
Die Zürcher Staatsanwaltschaft will das Urteil nun vor Bundesgericht ziehen, denn die Sky-ECC-Daten spielen in vielen laufenden Ermittlungen eine zentrale Rolle. Sie haben zur Aufdeckung grosser Drogennetzwerke und zur Verhaftung hochrangiger Krimineller geführt.
Ein Beispiel ist der Fall des belgischen Kokain-Bosses Flor Bressers (39), der jahrelang unerkannt in der Schweiz lebte, bis er 2022 in Zürich verhaftet wurde. Auch eine sizilianische Mafiafamilie, deren Führung sich im Unterwallis installierte, kommunizierte mit dem Messengerdienst.
Politikerinnen und Politiker sind wegen des Zürcher Entscheids empört. «Falls die abgefangenen Chats der organisierten Kriminalität in der Schweiz tatsächlich nicht als Beweismittel verwendet werden können, zeigt das dringenden gesetzgeberischen Handlungsbedarf», sagt etwa SP-Nationalrätin Linda De Ventura (39, SH) zu CH Media.
Ist der Messengerdienst selbst kriminell?
Auch FDP-Nationalrat Simone Gianini (49, TI) sieht möglichen Bedarf für gesetzliche Anpassungen. Er warnt aber dennoch vor einer wahllosen Nutzung von Daten, die durch Massenüberwachung gesammelt wurden.
Der Anwalt und SP-Nationalrat Christian Dandrès (44, GE) argumentiert, dass die enge Zusammenarbeit europäischer Länder bei der Strafverfolgung notwendig sei, um das organisierte Verbrechen wirksam zu bekämpfen. Er hält es für «absurd», Daten nur deswegen nicht zu verwerten, weil sie von der Behörde eines anderen Landes gesammelt wurden.
Dandrès geht sogar noch einen Schritt weiter: Er stellt zur Diskussion, ob das Sky-ECC-Netzwerk nicht selbst als kriminelle Vereinigung anzusehen sei, da seine Nutzung unter Mafiosi so weit verbreitet war.