Darum gehts
Ein kalter Wind weht durch die Pavilion Road im Londoner Bezirk Chelsea. Dezente Lichterketten spannen sich über die gepflasterte Seitenstrasse, während Menschen mit ihren vorweihnachtlichen Einkäufen durch den Nieselregen eilen. Mitten im Trubel stehen Sandra Studer und ihr Sohn Gian Müller (27). Beeindruckt lässt die 56-Jährige den Blick über die viktorianischen Backsteinhäuser gleiten. «Ich liebe diese Architektur!»
Zwei Tage verbringen die beiden in der britischen Hauptstadt – zum ersten Mal gemeinsam. «Das war eine spontane Idee. Und Gian hat sich mir zuliebe als Reisebegleiter zur Verfügung gestellt», so die vierfache Mutter. Auf dem Weg zum Sloane Square legen sie einen Halt im Einkaufszentrum ein: Gian braucht bei den eisigen Temperaturen einen Schal, Sandra bleibt vor den Auslagen stehen. «Ich bin ein Shopping-Muffel.» Für sie sei London vor allem eines – eine Theaterstadt. «Ein London-Besuch ohne Musical, das geht gar nicht.»
Vorfreude aufs neue Projekt
Klar, dass auch an diesem Tag ein solches auf dem Programm steht. Nach einer Stärkung beim Italiener lassen sich die beiden zurück zum Hotel fahren. Zeit zum Umziehen bleibt kaum, denn gleich gehts weiter ins Theaterviertel West End, wo die Originalproduktion von «Mamma Mia!» wartet. Für Sandra Studer ein besonderer Moment: Nächstes Jahr steht sie in der Schweizer Adaption des weltberühmten Musicals in Zürich auf der Bühne der Maag Halle. «Als das Angebot kam, habe ich sofort Ja gesagt. Ich wollte mir das Original aber vorher unbedingt noch anschauen», erzählt die Sängerin, die in Musicals wie «Sister Äct» oder «Spamalot» mitgewirkt hat.
Die Proben von Dominik Flaschkas’ Inszenierung beginnen Mitte März. Studer verkörpert die Rolle der Donna. «Die Mutter, die im Film von 2008 von Meryl Streep gespielt wird. Vom Alter her passe ich ja nur für ihre Rolle», witzelt sie. Mit ihrer Bühnenfigur, einer alleinerziehenden Tavernenbesitzerin in Griechenland, hat sie vor allem ein Thema gemeinsam: das Loslassen der eigenen Kinder. «Das ist eine emotionale Herausforderung. Ich verstehe, wie es Donna geht, die ihre Tochter Sophie ziehen lassen muss», sagt Sandra.
Dieser Artikel wurde erstmals in der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.
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Die Familie im Wandel
Ihre eigene Tochter Lili (25) lebt schon länger nicht mehr bei ihr und Ehemann Luka (61). Dieses Jahr ist auch Gian ausgezogen. «Der Gedanke, dass irgendwann alle weg sind und das Haus leer ist, ist schon traurig. Aber gleichzeitig freue ich mich für meine Kids, dass sie ihren eigenen Weg gehen und die Flügel ausbreiten.» Gian, der ab Januar ein einjähriges Praktikum in einer Anwaltskanzlei beginnt und mit seiner Freundin Noemi (25) in Zürich lebt, grinst. «Jö, s Mami isch am Vermissä.» Aber er sei ein Familienmensch und komme immer wieder gern nach Hause. «Wir sind ein Clan und auch oft in der Grossfamilie zusammen. Das finde ich schön», sagt Sandra Studer.
Dennoch schätze sie es, dass die beiden jüngsten Töchter noch daheim wohnen. «Wenn sich das einmal ändert, kann ich mir gut vorstellen, Studentinnen oder Studenten aufzunehmen. Meine Schwester macht das auch.» Und wie sieht sie es mit Enkelkindern? «Ich werde sicher eine leidenschaftliche Grossmama.» Schmunzelnd fügt sie hinzu: «Aber noch nicht heute oder übermorgen. Ich habe familienintern einmal angesagt, dass ich 20 Jahre lang keine Windeln wechseln möchte. Das geht also noch ein Weilchen …»
Ein Abend mit Abba
Währenddessen biegt das Taxi auf den Aldwych ein. Durch die beschlagenen Scheiben tauchen die hellblau leuchtenden Buchstaben «Mamma Mia!» auf, und wenig später stellen sich Sandra und Gian im Theaterfoyer an. «So coole Plätze!», freut sich Sandra, als sie ihre Sitze entdeckt. «Wie ein Mini-Opernhaus», findet Gian. Dann geht das Licht aus. Ein Abba-Medley erfüllt den Saal, und los gehts. Studer lächelt zwischendurch oder wippt mit dem Fuss zu Songs wie «Dancing Queen» oder «Take a Chance on Me».
Zweieinhalb Stunden später, auf der Rückfahrt durch strömenden Regen, ziehen die beiden ein Fazit. «Das Stück ist eine geballte Ladung Nostalgie und lebt ganz klar von der Musik. Schon verrückt, dass man einfach jeden Song kennt. Und das englische Ensemble ist toll», findet Sandra. Gian, der sich selbst nicht wirklich als Abba-Fan bezeichnet, klingt etwas pragmatischer: «Ich müsste es jetzt nicht noch einmal sehen. Aber auf die schweizerdeutsche Version und meine Mam in Zürich bin ich natürlich gespannt.»
Ein Kreis schliesst sich
Tags darauf wirkt London wie ausgewechselt. Der Regen ist strahlendem Sonnenschein gewichen. Sandra Studer steht mit Gian auf der dicht besuchten Millennium Bridge und geniesst das Panorama an der Themse. Die Lust auf etwas Leckeres treibt die beiden schliesslich Richtung St. Paul’s Cathedral. «Wenn unsere Familie im Ausland unterwegs ist, gehts meist ums Essen», erzählt Gian und lacht. Ob Thai-Curry oder Fish & Chips, entscheidet Gians «Kraken-Orakel»-App. Die Wahl fällt auf das britische Nationalgericht.
Während sie durch das Bankenviertel schlendern, hält ein roter Doppeldeckerbus vor dem Lichtsignal. Auf der Rückseite prangt ein riesiges «Mamma Mia!»-Plakat. Sandra lacht. «Abba zieht sich irgendwie durch mein Leben.» Als Kind sei sie ein extremer Fan der schwedischen Popgruppe gewesen, habe Björn Ulvaeus sogar einen Liebesbrief geschrieben. «Ich habe in 14 Ordnern jeden Schnipsel gesammelt.» Und ihr Vater wollte ihr das hart ersparte «Abba Special»-Magazin abkaufen, um ihren Geschäftssinn zu testen. «Aber ich hätte es nicht für eine Million hergegeben», erinnert sie sich.
Dass sie ausgerechnet jetzt wieder mit Abba in Berührung kommt, empfindet sie fast als schicksalhaft. «Die Gruppe gehört ja praktisch zum ESC.» Im Mai moderierte Studer den Musikwettbewerb mit Hazel Brugger und Michelle Hunziker für ein 166-Millionen-Publikum. «Der ESC war eine grossartige Achterbahnfahrt in meinem Leben – intensiv, verrückt und wahnsinnig schön.» Arbeitsmässig sei es «das Grösste, was ich je machen durfte». Auch mit Hazel blieb sie in Kontakt. «Wir sind gute Freundinnen geworden. Das ist ein Geschenk.»
Ein Wermutstropfen bleibt aber, wie Studer verrät: Während einer Live-Sendung stürzte sie Backstage und verletzte sich an der Schulter. «Ich dachte, es ginge von selbst weg.» Doch ein MRI zeigte, dass ihre Bizepssehne angerissen ist. Anfang Januar folgt eine OP. «Ich werde eine Weile ausgeschaltet sein. Aber bis zu den ‹Mamma Mia!›-Proben bin ich wieder fit.»
Inzwischen hat sich die Sonne hinter der Londoner Skyline verabschiedet. In zwei Stunden hebt der Flieger nach Zürich ab. Sandra und Gian steigen in den Zug Richtung Flughafen und lassen das vorweihnachtliche Getümmel hinter sich. «Jetzt wächst bei mir die Vorfreude auf Weihnachten mit meiner Familie», sagt Sandra. 25 Gäste erwartet sie. «Es wird gegessen und gesungen.» Und ihr Blick auf 2026? «Vorsätze habe ich keine mehr – ich breche sie sowieso immer.» Sie wünsche sich vor allem eins: Gesundheit. «Alles andere ergibt sich von selbst.»