Internationaler Tag der Non-Binarität
«Wir möchten nur, dass anerkannt wird, dass wir existieren»

Nemo hat non-binären Menschen in der Schweiz eine Stimme gegeben. Anlässlich des heutigen internationalen Tages der Non-Binarität gehen wir weg von der Bühne und schauen in den Alltag zweier Menschen. Sie erzählen aus ihrem Leben und sprechen über ihre Wünsche.
Publiziert: 13:28 Uhr
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Aktualisiert: 14:00 Uhr
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Sandra CasaliniTeamlead Service

Sie könnten kaum unterschiedlicher sein. Tabea Rai (32), klein, quirlig, mit einem herzlichen, ansteckenden Lachen. Und Lino Sibillano (60), gross und schlank, von der Art her ruhig, ein feines Schmunzeln im Gesicht. Was die beiden verbindet, dürfte für die Menschen auf der Berner Bundeshausterrasse, an denen sie vorbeischlendern, kaum ersichtlich sein: Rai und Sibillano sind non-binär.

Tabea Rai und Lino Sibilliano leben ihre Nonbinarität unterschiedlich. Was sie verbindet, ist der Wunsch nach Akzeptanz.
Foto: Valeriano Di Domenico

Tabea Rai haderte bereits als Kind mit der Mädchenrolle. Kleider anzuziehen und sich frisieren zu lassen, hasste Rai. Oft wurde Rai gefragt: «Möchtest du lieber ein Bub sein?» Eine Frage, mit der Rai nichts anfangen konnte. Sie löste lediglich das Gefühl aus, kein richtiges Mädchen zu sein – überhaupt nicht «richtig» zu sein. Später merkte Rai: «So wie meine Freundinnen leben, lieben, fühlen, das entspricht mir nicht. Aber wenn ich in einer Männergruppe war, hatte ich auch nicht das Gefühl, einer von ihnen zu sein.»

Im Alter von 20 Jahren outete sich Rai als lesbisch. Doch erst vor gut einem Jahr, als Tabea an einem queeren Filmfestival mit einer non-binären Person redete, ist es Rai klar geworden: «Genau so fühle ich mich auch.» Dieses Gefühl konnte von diesem Moment an nicht mehr unterdrückt werden. 

Non-binär trotz Bart  

Das Wort Non-Binarität bräuchte Lino Sibillano (60) für sich nicht. «Aber da wir Menschen soziale Wesen sind, brauche auch ich ein Wort für mein Sein, damit es mich im Umgang mit anderen Menschen gibt.» Sibillano definiert die eigene Non-Binarität anders als Tabea Rai: «Die mir aufgrund der Herkunft meiner Eltern zugeschriebenen Eigenschaften haben sich schon immer genauso leblos angefühlt wie die Eigenschaften, die ich als Mann verkörpern müsste. Weder die Nationalität noch der Penis gibt mir darüber Auskunft, wer, was und wie ich bin, was mir guttut, was ich darf und was ich nicht darf.»

Diese Identitätszuschreibungen erklärt Lino Sibillano für sich als schlicht irrelevant. Dennoch können sie nicht ignoriert werden. Sibillano weiss, dass Sibillano im Alltag als weisser Mann gelesen wird. «Ich trage den Bart nicht, um meine Non-Binarität zu negieren, sondern weil ich mir so gefalle» – gleichzeitig nutzt Sibillano diese «Normalität», «um Berührungsängste abzubauen. Ich komme so mit vielen Menschen ins Gespräch, die sonst nie bewusst direkten Kontakt mit einem non-binären Menschen hätten.»

Unzählige Male aus der Frauentoilette geschmissen  

Tabea Rai hingegen sieht sich im Alltag oft – und schon lange vor dem Outing als nicht-binär – mit negativen Reaktionen konfrontiert: «Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich aus öffentlichen Frauentoiletten geschmissen wurde. Obwohl ich mich damals als Frau identifiziert habe.» 

Tabea Rai war im Berner Stadt- und im Grossrat. Lino Sibillano engagiert sich an Schulen für Aufklärung.
Foto: Valeriano Di Domenico

Was den Körper angeht, sagt Lino Sibillano: «Es gibt keinen non-binären Normkörper oder Geschlechtsausdruck, was letztendlich auch für das weibliche und männliche Geschlecht gilt. Das bedeutet aber nicht, dass es Non-Binarität gar nicht gibt!» Das grösste Anliegen von non-binären Personen ist denn auch so banal, dass es traurig ist: «Es ist entwürdigend, dass unsere Existenz zur Diskussion freigegeben wird.», sagen Lino Sibillano und Tabea Rai.

Dem stimmt auch Dagmar Pauli, Psychiaterin und Autorin von «Die anderen Geschlechter – Nicht-Binarität und trans*normale Sachen», zu: «Unsere Gesellschaft legt sehr viel Wert auf das Unterscheiden von Mann und Frau. Dieser Unterschied ist so bedeutsam, dass es uns ganz wichtig ist, ihn sofort einordnen zu können. Es irritiert und verunsichert uns total, wenn wir nicht wissen, wo die Person hingehört», sagt sie im Interview mit dem Blick-Podcast «Durchblick».

Die Anerkennung eines dritten Geschlechts auf politischer Ebene gäbe non-binären Menschen das banalste aller Grundrechte: «Unsere Existenz», so Tabea Rai, einst sieben Jahre lang Mitglied im Berner Stadtrat und ein Jahr im Grossrat. Aber auch im täglichen Leben bedeutet Non-Binarität, sich ständig damit konfrontiert zu sehen, was man wann von sich preisgeben möchte. «Was kreuze ich auf Formularen an? Oute ich mich beim Besuch in der Arztpraxis? Wie reagiere ich, wenn ich mit Pronomen angesprochen werde, die für mich nicht stimmen?» Für Rai kräftezehrend und ermüdend. 

«Das Vorbild sein, das ich nie hatte» 

Zwar habe Rai ein unterstützendes Umfeld, das dabei hilft, mit Ignoranz und auch Hass umzugehen. Zudem macht Rai immer wieder auch Erfahrungen mit Rassismus. «Trotzdem würde ich sehr viel lieber einfach mein Leben leben, statt täglich um Akzeptanz zu kämpfen.» Warum es Rai trotzdem tut? «Ich möchte sichtbar sein, damit Kinder und Jugendliche, wie ich es war, die Vorbilder haben, die ich nicht hatte. Kämpfen tue ich, damit sich die Gesellschaft ändert und irgendwann alle die gleichen Rechte haben.» 

Unterwegs in der Hauptstadt: Tabea Rai kommt aus Bern, Lino Sibillano aus Zürich
Foto: Valeriano Di Domenico

Dass viele Menschen Non-Binarität nicht verstehen, können Tabea Rai und Lino Sibillano nachvollziehen. «Menschen müssen ja auch nicht alles verstehen. Ich kann nachvollziehen, dass Non-Binarität irritierend sein kann», sagt Sibillano. «Aber es ist doch schön, jemandem etwas Gutes zu tun, auch wenn ich es nicht verstehe und selber nicht brauche.» Ein Pronomen wegzulassen oder einen Genderstern zu benutzen, nehme ja niemandem etwas weg. «Und für uns bedeutet es, dass unsere Existenz anerkannt und respektiert wird.»

Gender-Expertin Dagmar Pauli bläst ins gleiche Horn: «Wir müssen als Gesellschaft etwas wegkommen davon, dass die Geschlechter-Zuordnung so wichtig ist. Es passiert damit ja nichts, die Mehrheit der Leute wird sich weiterhin klar als männlich oder weiblich sehen.» Das ist auch für Lino Sibillano und Tabea Rai klar. Sie wollen nicht die Geschlechter abschaffen, betonen beide. Rai: «Wir möchten nur, dass anerkannt wird, dass wir existieren.»

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