Karin Liechtis Tochter starb an Krebs
«Der Tod eines Kindes wird oft tabuisiert»

Karin Liechtis Tochter Olivia ist mit 13 Jahren an Knochenkrebs gestorben. Zuerst verdrängte die Mutter ihre Trauer – mit fatalen Folgen. Heute nutzt sie ihre Erfahrung, um andere Eltern im Trauerprozess zu unterstützen.
Publiziert: vor 23 Minuten
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Karin Liechti vor Porträts aus glücklichen Familientagen. Als Vizepräsidentin der Kinderkrebshilfe Schweiz begleitet sie heute Familien, die wie sie ein Kind verloren haben.
Foto: Siggi Bucher

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Fabienne EichelbergerFreie Journalistin Service-Team

Etwas mehr als sieben Jahre ist es her, als Olivia starb. Sie war 13 Jahre alt. Schuld an ihrem frühen Tod war ein Tumor im Ellbogen. Olivia litt an einem Osteosarkom – an Knochenkrebs, der später in die Lunge streute.

Ihre Mutter Karin Liechti kann heute gefasst über die zehn Monate von der Diagnose bis zum Tod ihrer Tochter sprechen – weil es ihr wichtig ist, der Trauer auch in der Öffentlichkeit Raum zu geben. «Der Tod eines Kindes wird oft tabuisiert. Es ist aber leider Realität, dass auch Kinder sterben», sagt sie. Viele Menschen wissen aber nicht, wie sie mit dem schweren Thema und den betroffenen Familien umgehen sollen. 

Aus diesem Grund hat der Verein Kinderkrebs Schweiz seine letzte Sensibilisierungskampagne dem Thema «Abschied nehmen» gewidmet. Er möchte dafür sorgen, dass sich Familien in ihrer Trauer weniger allein fühlen. 

Funktioniert, aber nicht verarbeitet

Karin Liechti aus dem aargauischen Waltenschwil setzt sich als Vizepräsidentin der Kinderkrebshilfe Schweiz – einer Mitgliedsorganisation des Dachverbands Kinderkrebs Schweiz – dafür ein. Sie begleitet Familien in der Trauerarbeit, leitet Wochenenden und unterstützt Trauerabende. 

Als Olivia starb, gab es solche Angebote noch nicht. Rückblickend ist der 52-Jährigen auch klar, dass sie ihre Trauer damals viel zu sehr unterdrückt hat. «Nach Olivias Tod stürzte ich mich rasch wieder in die Arbeit», erinnert sie sich. Sie habe funktioniert – für Olivias drei Jahre älteren Bruder, aber auch, weil sie den Tod ihrer Tochter gar nicht verarbeiten wollte. 

Zwei Wochen vor ihrem Tod konnte sich Olivia den Wunsch, einmal Gleitschirm zu fliegen, erfüllen.
Foto: Zvg

Heute weiss sie, welche Folgen das haben kann. «Eine Woche nach Olivias erstem Todestag erlitt ich einen Zusammenbruch», erzählt Liechti. Sie habe sich ins Auto gesetzt und wollte in den nächsten Baum fahren. Nicht mit dem klaren Wunsch zu sterben – aber um bei Olivia zu sein. Zum Glück rief sie während der Fahrt ihren Mann an, der sie nach Hause lotsen konnte. «Ohne ihn wäre ich nicht mehr hier.» 

Nach diesem Ereignis nahm Liechti professionelle Hilfe an und stellte sich ihrer Trauer. Es folgten harte Monate. Rund ein Jahr später fühlte sie sich jedoch bereit, anderen Eltern zu helfen, die ein Kind verloren hatten.

Einer der wichtigsten Schritte sei es, über das Erlebte zu reden. Unter anderen Betroffenen fällt das oft leichter. Liegt der Todesfall noch nicht lange zurück, fragen Eltern oft: «Wie hast du gelernt, wieder zu lachen?» Sie antworte dann: «Auch wenn du es jetzt nicht glaubst: Auch du wirst es irgendwann wieder können.» Dazu müsse man sich aber zuerst erlauben, wieder glücklich zu werden, und bereit sein, aus der Opferrolle auszubrechen. Fehlt einem die Kraft dazu, empfiehlt Liechti psychologische Hilfe.

Kinderkrebs in der Schweiz

350 Kinder und Jugendliche erkranken in der Schweiz jährlich neu an Krebs. Am häufigsten sind Leukämien, gefolgt von Tumoren in Hirn und Rückenmark sowie Lymphdrüsenkrebs. Über 80 Prozent der betroffenen Kinder und Jugendlichen können hierzulande geheilt werden. Die ehemaligen Kinderkrebspatientinnen und -patienten werden Survivors genannt. Manche von ihnen leiden an Spätfolgen der aggressiven Therapien, weshalb eine umfassende Nachsorge essenziell ist. Kinderkrebs Schweiz hat darum eine nationale Fachstelle für Survivors und ihre Familien eingerichtet.

350 Kinder und Jugendliche erkranken in der Schweiz jährlich neu an Krebs. Am häufigsten sind Leukämien, gefolgt von Tumoren in Hirn und Rückenmark sowie Lymphdrüsenkrebs. Über 80 Prozent der betroffenen Kinder und Jugendlichen können hierzulande geheilt werden. Die ehemaligen Kinderkrebspatientinnen und -patienten werden Survivors genannt. Manche von ihnen leiden an Spätfolgen der aggressiven Therapien, weshalb eine umfassende Nachsorge essenziell ist. Kinderkrebs Schweiz hat darum eine nationale Fachstelle für Survivors und ihre Familien eingerichtet.

«Ich werde trauern, bis ich meine Tochter wiedersehe»

Eltern, die sich schon vor einigen Jahren den Tod ihres Kindes beklagen mussten, erzählen Liechti oft: «Ich habe niemanden mehr zum Reden.» Viele Menschen, die nicht dasselbe Schicksal teilen, wollen irgendwann nicht mehr vom Tod des Kindes hören. Einige fragen sogar: «Warum trauerst du noch immer?» Für Liechti ist klar: «Auch wenn es mir mittlerweile gut geht: Ich werde trauern, bis ich meine Tochter wiedersehe.» Die Trauer verändere sich zwar, verschwinde aber nie ganz.

Für Aussenstehende sei das oft schwer zu verstehen. «Sie betrachten die Beerdigung als einen Abschluss. Doch für Betroffene beginnt dann erst der eigentliche Trauerprozess.» Während Freunde und entferntere Verwandte zurück in die Normalität kehren, gibt es diese für die Kernfamilie nicht mehr. 

Liechti hätte sich gewünscht, dass mehr Menschen auf sie zugegangen wären. Doch schon während Olivias Krankheit spürte sie die Überforderung vieler Bekannter. «Einige wechselten die Strassenseite oder versteckten sich beim Einkaufen hinter den Regalen», erinnert sie sich. Betroffene zu meiden, sei jedoch das Schlimmste, was man tun könne. Man müsse keine Hemmungen haben, sie anzusprechen. «Möchte jemand nicht reden, wird er das schon sagen.»

Es habe aber durchaus auch Menschen gegeben, die immer für sie da gewesen seien, mal ungefragt einen Zopf vor die Tür legten oder Hilfe im Haushalt anboten. «Das habe ich sehr geschätzt.» Zudem habe sie dank der Kinderkrebshilfe auch viele neue Freundschaften geknüpft. 

Heute stärker als zuvor

Heute sagt Liechti: «Es ist wahnsinnig traurig, dass wir unsere Tochter verloren haben. Aber ich ziehe auch Positives aus dem Verlust.» Sie habe etwa gelernt, für sich selbst einzustehen: «Ich bin ein stärkerer Mensch als früher.» 

Droht die Trauer zu stark zu werden, wie kürzlich, als Olivia ihren 20. Geburtstag gefeiert hätte, bucht Liechti einen Flug in die Türkei. Dort waren sie früher oft zu viert. Nun fühlt sie sich Olivia besonders nahe, wenn sie allein am Strand sitzt und aufs Wasser blickt. «Dann fliessen die Tränen.» Doch danach komme sie stets mit neuer Kraft nach Hause. Auch dort ist Olivia präsent – auf Fotos, in Gesprächen und Erinnerungen. Und fragt eine fremde Person, wie viele Kinder Liechti hat, dann antwortet sie: «Ich habe ein Erden- und ein Himmelskind.»

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